„Bücher machen deinen Kopf kaputt!“

Das Lieblingsfreizeitthema von Beta ist Sexualität und alles was dazu gehört. Bei ihren Dates mit Männern außerhalb ihres Klüngels macht sie so allerlei verwirrende Erfahrungen. In der Lirabelle schreibt sie in loser Folge aus feministischer Perspektive über ihre Erlebnisse.

Wir stehen auf seinem Balkon im siebten Stock des Hochhauses im Plattenbaugebiet. Ich genieße die Aussicht. Keine*r meiner sonstigen Freundinnen und Freunde wohnt im Block. Wir zeigen uns gegenseitig die Häuser und Plätze, die wir von weitem erkennen können. Sogar den Flughafen am anderen Ende der Stadt sieht man. Er liegt quasi auf gleicher Höhe wie der Balkon, auf dem wir stehen. Die Stadt breitet sich in einer Kuhle zwischen uns und dem Flughafen aus. Schon am Abend zuvor standen Haitem und ich Seite an Seite und leicht fröstelnd auf dem Balkon, schauten in die beleuchtete Stadt und rauchten eine Zigarette. „Als wäre man in Los Angeles“, träume ich. „Ja, oder in Frankfurt“ entgegnet er. Ich könnte ewig auf die glitzernden Lichter der Stadt schauen. Wir teilen uns seine Badelatschen, er den rechten, ich den linken Schuh. Ich stehe mit meinem linken Fuß auf dem Badelatschen, den rechten Fuß balanciere ich darauf, um meinen Fuß zu wärmen. Als er mich am frühen Abend in seine Wohnung gebeten hat, erkannte ich gleich die Badelatschen: weißes Plastik im Fußbett, der restliche Teil blau. Alle, die in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge wohnen, bekommen diese Badelatschen, seit Jahren. Man findet sie nun überall im Land verteilt bei den Leuten zu Hause, erst in den Mehrbettzimmern der Sammelunterkünfte und dann in den eigenen Wohnungen. Womöglich findet man sie auch in einigen Wohnungen der Länder, in die manche wieder abgeschoben werden.
Wir sitzen auf seiner Couch und essen Reis und mein Lieblingsgemüse Aubergine. Haitem hat das Gericht nach einem Rezept von seinem Onkel, der ein Restaurant leitet, zubereitet. Das Essen ist wie Tapas angerichtet, allerdings auf großen Tellern, von denen wir direkt essen.
Er fragt mich, warum Männer und Frauen auf der Straße Hand in Hand rumlaufen. Um die Frage zu verbildlichen, nimmt er zum ersten Mal meine Hand. Ich erkläre, dass Frauen und Männer Händchen halten, wenn sie sich mögen: „Es fühlt sich doch ganz schön an“. Währenddessen komme ich mir etwas erklärbärmäßig vor. Vielleicht wollte er durch die Frage auch einfach nur meine Hand nehmen und wusste die Antwort längst. Er erzählt, dass man im Irak nicht Händchen haltend durch die Gegend läuft.
Später am Abend fragt Haitem: „Hast du einen Freund?“. Ich antworte: „Ein bisschen“ – „Wie ein bisschen? Hast du oder hast du nicht?“ -“Ich habe einen Freund, aber manchmal treffe ich auch andere Männer und mein Freund hat auch noch eine andere Freundin. Und das ist ok für uns.“ Er überlegt. Später am Abend sprechen wir nochmal über das Thema und ich hoffe, dass er mich versteht. Morgens fragt er mich zum dritten Mal und bittet darum, ein Foto von meinem Freund zu sehen. Ich zeige ihm eins auf meinem Smartphone und er sagt: „Schön“, so wie er immer „schön“ sagt, so begeistert und betont, das „sch“ ziemlich stark gesprochen und das „ö“ langgezogen.
Bei unserem ersten Date sagte Haitem „Du bist schön.“. Ich lächelte peinlich berührt und antwortete: „Danke“. Er fragt „Was antworten deutsche Frauen, wenn ich sage ‚du bist schön‘?“. „Man kann zum Beispiel ‚Danke‘ sagen. Manche sagen auch nichts. In manchen Situationen kann so ein Satz auch schlecht sein. Es kann sein, dass die Frau sauer ist“, überlege ich laut. Er erzählt mir, dass, wenn man im Irak einer Frau einfach so sage, dass sie schön sei, sie dann „Arschloch“ zu dem Mann sagt, aber hier in Deutschland sagen die Frauen einfach nur „danke“. Ich erkläre, dass es in Deutschland natürlich ganz viele Situationen geben kann, in denen das Kompliment völlig falsch ankommt und die Frau auch sauer werden kann. Er scheint bisher noch keine negativen Erfahrungen damit gemacht zu haben. Er habe seiner Sozialarbeiterin, einer Freundin und anderen Frauen schon gesagt, dass er sie schön fände und sie haben immer gelächelt und danke gesagt. In den nächsten Wochen führen wir das gleiche Gespräch noch zweimal, bis beim dritten Mal schließlich der Hintergrund der Frage rauskommt. Im Irak habe ihm ein Mann erzählt, dass es in Deutschland Freiheit gibt. Das heißt also, wenn man zu einer Frau „Du bist schön“ sagt, sie dann „Du bist auch schön. Willst du einen Kuss?“ antwortet und dann küsst man sich. Als Haitem in Deutschland ankam, hat er es ausprobiert: „Du bist schön“ – „Danke“ – und nichts weiter. Er wartete auf eine weitere Antwort und fragte schließlich „Warum sagst du nicht, dass ich auch schön bin und du einen Kuss möchtest?“, aber er hatte keinen Erfolg. Ich muss über seine Erzählung ziemlich lachen und frage, ob alle, die aus dem Irak kommen, so denken. „Nein“, sagt er. Ich erkläre, dass es natürlich möglich ist, dass sich zwei Menschen zum Beispiel bei einer Party kennen lernen, sich nett finden, sich lange unterhalten und dann tatsächlich nach Hause gehen und miteinander schlafen. Aber das sei nicht so einfach. Man müsse vorsichtig sein und sich langsam rantasten.
Während dem Essen bei ihm zu Hause erzählt mir Haitem, dass er schon mal verheiratet war: mit Zwanzig, für ein paar Jahre lang. Dann hat sie sich scheiden lassen. Nun lebe sie mit einem neuen Ehemann in Osteuropa. Auf meine Frage, ob sie Kinder hatten, antwortet er, dass er eigentlich selbst noch ein Kind war. Dann zeigt er mir auf seinem Smartphone ein Foto von sich als Kind. Ich denke, dass das Foto ein Scherz ist. Ich denke, er zeigt mir ein Bild seiner Cousine. Also lache ich, aber er sagt nur „Süß, nicht? Ich sah so süß aus als Kind!“ Ich starre auf das Bild und versuche herauszubekommen, ob er gerade einen Spaß macht. Auf dem Bild sehe ich ein kleines Mädchen, ca. zwei Jahre alt, mit niedlichen, frisch gekämmten Zöpfen an den Seiten und rosa geschminkten Lippen. Aber es ist er. Das Schockierendste an der Situation ist meine eigene Geschocktheit. Ich kann fast nicht mehr klar denken und bin völlig abgelenkt und warte auf eine Erklärung, aber die kommt nicht. Ich weiß auch nicht, wie und was ich fragen soll. Ich kann ja nicht sagen, „du siehst aus wie ein Mädchen“, das klänge ja beleidigend. Nein, natürlich nicht beleidigend. Mädchen sind doch toll. Nur durch meine Sozialisation denke ich, dass Jungs nicht so aussehen möchten wie Mädchen. Es ist doch gar nichts Negatives, dass er es schön findet, dass er aussieht wie ein Mädchen, denke ich mir. Aber anscheinend ist er sich null bewusst, dass ich glauben könnte, dass er aussieht wie ein Mädchen. Nur ich denke das. Auf dem Bild ist er einfach ein Kind mit langen Zöpfen und rosa geschminkten Lippen. Niedlich.
An Neujahr habe ich Lust auf Katersex und verabrede mich mit einem Onlinedate, der sich seit längerem mal wieder gemeldet hat. Der Sex macht ziemlich großen Spaß, wird aber von einer Prise schlechten Gewissens begleitet. „Ob das für Haitem wirklich ok ist, wenn ich andere Männer treffe? Zählen dazu auch neue Verabredungen, von denen er noch nichts weiß?“, grübele ich. Bei unserem nächsten Treffen bin ich etwas unruhig und überlege, wie ich ihm von meiner Affäre berichten soll. Von früheren Beziehungen bin ich es gewohnt, dass neue Affären erst mal für Unwohlsein und Verwirrung sorgen. Ich plane, es ihm ganz gechillt zu sagen, kein großes Ding daraus zu machen, damit er auch ganz entspannt reagiert. Während wir spazieren gehen, erzähle ich es ihm. Er sagt „Ok“ und nichts weiter. Ich bin überrascht und frage, ob es wirklich ok sei. Er entgegnet „Ja klar, du bist in Deutschland. Du bist frei.“
Wir laufen weiter Hand in Hand durch die Innenstadt und er fragt, warum in dieser Stadt so viele Möbel auf der Straße herum stehen. Ich versuche ihm das Sperrmüllsystem zu erklären. Er fragt nochmal, warum so viele Möbel auf der Straße herum stehen. Ich erkläre, dass Menschen sich neue Möbel kaufen und die alten eben wegschmeißen. Er fragt nochmal, warum hier so viele Möbel herumstehen und ich erkläre nochmal das Sperrmüllsystem. Bis er „ich habe verstanden“ sagt, aber ich habe das Gefühl, dass wir völlig aneinander vorbei geredet haben.
Zu Hause im Bett küssen wir uns und er sagt, er möchte so Sex haben, dass bei uns beiden das Wasser kommt. Haitem geht davon aus, dass Frauen auch immer ejakulieren, wenn sie kommen. Diese Gleichsetzung des Orgasmus bei Frauen und Männern (wie es sie in der Geschichte der Menschheit auch immer wieder gab) erfreut mich. Ich lasse ihn noch etwas in dem Glauben, dass Frauen normalerweise abspritzen, wenn sie kommen, weil ich das irgendwie schön finde, aber dann kläre ich ihn doch auf: „Viele Frauen in Deutschland wissen nicht mal, dass sie überhaupt ejakulieren können.“
Nach dem Sex liege ich auf dem Bett und rauche genüsslich eine Zigarette. Er steht mit einem Glas Wasser neben dem Bett und raucht auch. Wir unterhalten uns angeregt. Er fragt nach Wörtern, indem er auf Körperteile und Dinge zeigt, und ich nenne ihm die Vokabeln: Penis, Eier, Brüste, Menstruation, seine Tage haben, Gummi, Sperma. Er fragt auch wie das Wasser bei mir heißt, wenn ich erregt bin. Ich suche nach Wörtern: „… ähm … ich weiß nicht, Schleim halt oder Scheidenflüssigkeit oder Zervixschleim. Ne, Zervixschleim hat ja nichts mit Erregung zu tun. Lass uns bei dem Begriff Wasser bleiben.“
Ich ärgere mich darüber, als Feministin keinen Begriff für diese flutschige Flüssigkeit zu haben.
Haitem und ich sitzen in meinem Zimmer auf der Couch. Er zeigt auf mein volles Bücherregal und ist entsetzt: „So viele Bücher? Das macht deinen Kopf kaputt!“ „Was?“ frage ich lachend, „wieso?“ „Zu viele Bücher machen den Kopf kaputt. Zum Beispiel: man liest ein Buch, zum Beispiel über amerikanische Politik, man versteht es und denkt sich, aha, ich habe verstanden, und legt es weg. Dann nimmt man ein anderes Buch, auch über amerikanische Politik und da steht dann was ganz anderes drin und das macht den Kopf kaputt.“ Ich sage „Quatsch, es ist doch super, viele verschiedene Perspektiven kennen zu lernen.“ Ich lache und erkläre, dass in Deutschland niemand sagen würde, dass Bücher schlecht seien. Klar, nicht alle Menschen mögen es, zu lesen, aber Bücher haben einen sehr guten Ruf. Er erzählt mir von seiner Exfreundin, die nun Zahnärztin in Washington sei und deren Kopf vom vielen Studieren nun auch kaputt sei.
Ein paar Tage später telefoniere ich mit meinem besten Freund. Er kämpft mit seiner Bachelorarbeit und ist völlig fertig. Er liest und liest und liest, aber wie soll er die ganzen Thesen zusammenfassen, was ist wichtig und was nicht? Und eigentlich haut seine Gliederung vorne und hinten nicht hin. Er klingt total verzweifelt. Ich hätte ihm am liebsten geraten, es sein zu lassen und sich wieder den schönen Dinge des Lebens zu widmen, aber es sieht halt kacke aus, wenn man die Bachelorarbeit nicht schafft. Er beißt sich also weiter durch. Nach dem Telefonat muss ich an Haitems Aussage denken.
Ein paar Wochen später erzähle ich ihm von meinem Urlaub und von dem Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, den ich gerade lese und dass ich völlig fertig sei, weil in der Geschichte gerade Menschen reihenweise auf brutalste Weise erschossen werden. Es ist so nah und packend erzählt, dass ich beim Lesen die Augen zumachen musste, um die Bilder in meinem Kopf nicht mehr zu sehen. „Warum gibt es keine Altersbeschränkung für das Buch? Warum steht da keine Warnung vorne drauf?“ rege ich mich künstlich auf. Gleichzeitig ist es mir peinlich, mich über menschliches Leid aufzuregen, denn Völkermorde sind Realität in unserer Geschichte und in unserer Gegenwart. Und wer weiß, was er als Yezide schon alles mit ansehen musste. Er sagt nur „Meine Liebe, ich sage es doch: Bücher machen deinen Kopf kaputt.“
Schon bei unserem zweiten Date sagte er „Ich liebe dich“. Ich lachte und glaubte ihm nicht: „Du kennst mich doch gar nicht.“ Er hat schon gehört, dass man das in Deutschland nicht so schnell sagt und fragt mich, ab wann man das zueinander sagen würde. Ich erzähle, dass manche Paare es nach ein paar Wochen zueinander sagten, andere nach ein paar Monaten, und dass dieser Satz für manche ziemlich wichtig ist und sogar einen Meilenstein oder Wendepunkt in einer Beziehung bedeuten kann. Ich erwähne nicht, dass ich dabei von herkömmlichen Mainstream-Beziehungen spreche, nicht von der Art Beziehungen, die ich seit ein paar Jahren führe. Er korrigiert sich also: „Ich liebe dich, auch wenn man das nicht sagt.“ Ich finde diese Aussage überaus berührend und lächele.
Ich erzähle ihm nicht, dass ich in meiner jetzigen und vorherigen Beziehung niemals „Ich liebe dich“ gesagt habe, auch wenn ich ab und an den Drang dazu verspürt habe, es zu sagen. Mein Freund hat es auch nie zu mir gesagt. Wir sagen uns, dass wir uns mögen und lieb haben und die gemeinsame Zeit genießen und meinen das tatsächlich auch so. Diesen kitschigen, überfrachteten Satz habe ich nicht über die Lippen gebracht. Ich frage mich, warum. Aus Scham? Oder weil ich ihn nicht wirklich liebe? Was heißt eigentlich Liebe? Ist das nicht ein viel zu großes Wort? Und schon ist man wieder verkopft und kann die Aussage auch gleich sein lassen.
Haitem gesteht mir also seit unserem zweiten Date frei raus mindestens 20 Mal pro Treffen seine Liebe, zusätzlich zu 20 Mal „Du bist schön.“ Ungefähr einmal pro Treffen sage ich „Ich mag dich. Es ist schön mit dir.“ und „Du bist schön.“ und meine es auch so. Er sagt mir, dass es ok sei, wenn ich ihn jetzt noch nicht liebe. Er würde mich in ein paar Monaten nochmal fragen oder in einem Jahr und wenn ich ihn dann liebe, dann, sagt er, dann liebe ich nur ihn und niemand anderen. Ich frage ihn, ob man nicht zwei Menschen lieben kann. Er ist verwundert: „Zwei? Wie soll das gehen? Da bleibt ja für jeden nur die Hälfte?“ „Nein“, entgegne ich, „man kann auch mehr als einen Menschen lieben.“
Während meines Urlaubs habe ich Schlussmach-Gefühle. Ich habe wenig Lust, mit Haitem zu telefonieren. Er meldet sich zu oft. Vielleicht mache ich nach meinem Urlaub Schluss, denke ich mir. Dann habe ich auch wieder mehr Zeit für meine langjährige Beziehung und für den heißen Typen, den ich neu im Internet kennengelernt habe. Ich nehme mir trotzdem vor, erst mal zu schauen wie sich unsere nächsten Treffen anfühlen. Einen Tag nachdem ich wieder zu Hause angekommen bin, telefoniere ich mit ihm und finde es ganz angenehm mit ihm zu sprechen. Wir verabreden uns für nachmittags. Tatsächlich genieße ich die Zeit mit ihm. Nach dem Sex liegen wir entspannt im Bett, die Köpfe nah beieinander und quatschen gemütlich. Ich überlege wie ich das Thema ansprechen soll, dass er mich anscheinend öfter treffen möchte als ich ihn. Er kommt mir zuvor und fragt mich, ob ich ihn liebe. Ich zögere und sage „Naja ein bisschen“. Er fragt „Von 0 bis 100 Punkten, wie viel liebst du mich?“ Ich überlege eine Weile, denke an 20 und antworte „30 Punkte und du?“ Er sagt: „60 Punkte, ne 65 Punkte. Eigentlich müssten wir beide uns 70 Punkte lieben.“ Ich bin erstaunt und froh, dass er nicht eine höhere Zahl genannt hat. Ich hätte eine Antwort von 80 oder 90 Punkten erwartet. Auf meine Bedenken, dass wir uns nicht so oft sehen, wie er vielleicht möchte, antwortet er, dass das ok sei, dass ich viele Freund*innen hätte und die ja auch alle treffen müsse und dass, wenn wir uns erst Ende des Monats wieder sehen, das auch ok sei. Ich glaube ihm so halb und bin froh, dass wir ziemlich offen über unsere Zuneigung zueinander gesprochen haben.
Bevor ich diesen Text hier fertig schreibe, frage ich ihn, ob ich diese Details über ihn und uns überhaupt veröffentlichen darf. Er versteht meine Frage genau, denn über einen Freund von ihm wurde auch schon mal geschrieben, in Griechenland. Als Haitem als Flüchtling in Athen gelebt hat, war sein Freund, der auch aus dem Irak kam, mit einer Sozialarbeiterin zusammen. Diese Frau hat ebenfalls über diesen Freund geschrieben und ein kleines Buch veröffentlicht. Und sie hat ihren Freund auch gefragt, ob das ok sei. Als Haitem mir das erzählt, muss ich über mich selbst lachen. Man ist halt doch nicht so individuell, wie man denkt: eine Sozialarbeiterin, die mit jemanden aus einem anderen Land zusammen ist, findet das total spannend und veröffentlicht gleich einen Text darüber.

Der Dicke Mann

Ein Wortschwall über Wichtigtuer. Von Jemandem.

Es gibt so einen Typ Männer, die dich in Gedanken „Der Dicke Mann“ nenne. Ich bin selber fett (oder, wie man heute sagt, „negativ von Weightism betroffen“). Der Dicke Mann ist in der Regel nicht übergewichtig, oft eher muskulös. Der Dicke Mann macht sich immer so dick wie möglich, damit ihn auch niemand übersieht. Bzw. überhört. Der dicke Mann röhrt mit dem Motorrad durch‘s Naherholungsgebiet, rudert auf der überfüllten Tanzfläche mit den Armen und rast mit seinem 2000€-Mountainbike (überbreiter Lenker, Motorrad-Bereifung) durch die Fußgängerzone.
Ob an der Bushaltestelle, im Büro oder im Wald: der Dicke Mann muss im Mittelpunkt stehen. Seinen Porsche parkt er demonstrativ auf dem Radweg. Fährt er selbst zwei Mal im Jahr Fahrrad, macht er seine Pause zielsicher an einer Engstelle und stellt sein 2000€-Mountainbike mitten auf den Radweg. Ist er mit Kind unterwegs, schnauzt er dieses an, es solle nicht im Weg rumstehen.
Ein typisches Habitat für den Dicken Mann ist der Baumarkt. Da läuft er durch den Gang, beäugt misstrauisch den Einkauf der Anderen darauf, wer die dicksten Säcke geladen hat. „30l Blumenerde? Du Weichei. Ich hab‘ zwei Zentner Zement“ denkt der Dicke Mann dann triumphierend und man muss sich diese Passage mit einer Stimme wie Bruce Willis in der Werbung vorstellen, mit 200%iger Überzeugung dafür, der Größte zu sein.
In der Corona-Krise ist der Dicke Mann besonders anstrengend. Denn, na kla, wenn der Fußweg 2m breit ist, muss der dicke Mann in der Mitte laufen. Der Dicke Mann trägt keine Gesichtsmaske. Er ist wasserdicht, kugelfest wie einst Supermann, und natürlich immun. Was ihn nicht umbringt, macht ihn nur härter, weswegen er mit verächtlichem Blick auf alle herunterschaut, die sich mit Maske im Gesicht verdruckst in die Ecken schieben, statt wie er breitbeinig und zielstrebig in der Mitte des Weges zu cruisen.
Muss der Dicke Mann bremsen, schrumpft sein Penis. Ob Einkaufswagen, SUV oder Fixie-Bike, er muss der erste sein. Machen die anderen keinen Platz, wird gehupt und gezetert. Sind die Leute an der anderen Kassenschlange, mit dem Kleinwagen oder dem Hollandrad am Ende doch schneller, entwickelt der Dicke Mann kurzzeitig starke Selbstzweifel. Aber weil das Erlebte etwas mit einem Gegenstandsbereich zu tun hat, der dem Dicken Mann im Grunde nicht offen steht (mit anderen Menschen nämlich), vergisst er auch rasch wieder und konzentriert sich auf den nächsten Wettbewerb. Ob Chef oder Aushilfe, der Dicke ist immer der wichtigste Mann im Betrieb. Vorgesetzte lassen ihn gerne in diesem Glauben, weil er dadurch auch beim Buckeln immer auf Dicke Hose macht und – zumindest bis zum ersten Herzinfakt – voller Stolz bis in die Nacht im Büro bleibt.
Politisch steht der Dicke Mann auf der Seite der Macht. Eigentlich wäre er selbst der beste Führer, da er alles am besten weiß. Weswegen Zusammenarbeit zwischen Dicken Männern kaum möglich ist, was zumindest zum Teil das Chaos in autoritären Parteien erklärt. Es erklärt aber auch, wieso so wenige Menschen bei der Amtseinführung von Donald Trump waren: Der Dicke Mann wählt zwar seinesgleichen, jemandem zuzujubeln wäre aber schon zu viel Hingabe für etwas, dass dem Dicken Mann im Grunde suspekt ist: andere Menschen.
Das Verhalten des Dicken Mannes als „rumprollen“ zu bezeichnen, ist purer Klassismus. Die proletatische Erfahrung umfasst zu viele gemeinsam erfahrene Demütigungen, um die Illusion zu entwickeln, der tollste Typ der Welt zu sein. Der Dicke Mann ist Künstler, Wissenschaftler, Ingenieur oder Unternehmer – Berufe, in denen es leicht fällt, sich einzubilden, als vereinzelter Einzelner heldenhaft seinen Mann zu stehen.
Ich habe mit Freundinnen darüber gesprochen, was man mit dem Dicken Mann tun kann. Ich habe manchmal die spontane Phantasie, das Problem mit einem kleinen Amoklauf anzugehen: Ich laufe durch den Baumarkt und schieße jedem Dicken Mann mit einer Knarre die Genitalien weg. Aber ich gebe zu: das ist irgendwie auch eine Dicker-Mann-Idee. Vielleicht muss man das Problem viel früher angehen und kleine Jungs ständig dafür loben, wie hübsch und lieb sie sind (statt dafür, was für einen dicken Haufen sie gemacht haben und wie schnell sie laufen können). Alternativ könnte man am akuten Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ansetzen und dem ausgewachsenen Dicken Mann einen Seelsorger an die Seite stellen. Der versichert ihm immer, wenn er den Motor röhren lässt, weitschweifig die Welt erklärt oder sich an der Baumarktkasse vordrängelt, dass er existiert: „Da hast Du aber fein Brumm-Brumm gemacht.“ Aber letztlich ist auch das nur eine lustige Idee, keine Lösung. Stattdessen möchte ich vorschlagen, die nach der Insolvenz leerstehenden Praktiker-Baumärkte als Dicker-Mann-Erlebnis-Park zu nutzen. Dort finden dann stündliche Dicker-Mann-Challenges statt: Wer kriegt am meisten Säcke auf den Wagen? Wer kann sich am besten an der Kassenschlange vordrängeln? Wer erzählt die lautesten Witze? Ein bisschen wie GTA, nur ohne Internet. Der Dicke Mann ist in seinem Element. Die Insolvenz-verwaltung freut sich. Der Rest der Welt hat Ruhe. Eine Win-win-win-Situation.

Sind wir nicht alle links-grün verseucht? – Eine Kritik am pandemischen Ausnahmezustand

Anhand des Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kritisiert Jens Störfried das aktuelle Krisenmanagement und seine potenziellen Folgen, die auch viele Linke leichtfertig in Kauf zu nehmen scheinen. Damit soll das Bewusstsein gestärkt werden, dass es auch bzw. gerade jetzt Kritik unter anderem an der halben Ausgangssperre und anderen autoritären Maßnahmen, sowie eine Weiterentwicklung unserer Vorstellungen von Solidarität braucht.

Die gesellschaftliche Krise, welche durch die rasche Ausbreitung des Corona-Virus hervorgetreten ist, wird die Handlungsbedingungen emanzipatorischer sozialer Bewegungen auf lange Sicht verändern. Es ist der globale Charakter dieser neuartigen Situation, verbunden mit einer tiefgreifenden Verunsicherung vieler Menschen, die aufgrund ihrer Gefühle des Ausgeliefertseins an einen unsichtbaren, unbekannten Feind, verdrängte existenzielle Ängste anspricht. Ängste sind irrational. Sie bringen Menschen dazu, Klopapier zu hamstern, sich zu Hause vorbeugend einzuschließen, rassistisch oder verschwörungstheoretisch zu werden, sich egoistisch auf die Kernfamilie zu fixieren oder irgendwie helfen und sich korrekt verhalten zu wollen.
Zweifellos bestehen allgemeine Bedürfnisse nach Schutz, Sicherheit, Gesundheit und Heilung bei den allermeisten Menschen. Um diese in einer als schrecklich empfundenen Krisensituation zu gewährleisten, wendet sich ein Großteil der Bevölkerung naheliegenderweise an die staatlichen Institutionen. Im Umkehrschluss verstärkt dies ihre Abwehrhaltung gegenüber Kritik an der bestehenden Herrschaftsordnung. Dass jene zumindest teilweise die Misere mit verschuldet hat, etwa weil die nationalen Gesundheitssysteme wie auch andere öffentliche Güter neoliberal zusammen gespart wurden, kann somit wiederum verdrängt werden. Ebenso, dass durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen all jene sozialen Probleme an die Oberfläche treten, die auch vorher bestanden: häusliche Gewalt, Obdachlosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, faschistische Bürgerkriegsphantasien, Abschottung der Festung Europa, die Unselbständigkeit vieler Menschen, mit Unsicherheiten umzugehen und dergleichen. Für kritisch eingestellte Menschen bestätigt sich hingegen in der kollektiven Erfahrung des Ausgeliefertseins, was sie auch zuvor schon wussten: Dass Gesundheit, Absicherung und Wohl der Menschen keineswegs im Zentrum des staatlich-kapitalistischen Gesellschaftssystems stehen.
Somit tritt das Paradox hervor, dass der demokratische Staat, die demokratischen Grundrechte und -freiheiten seiner Bürger*innen massiv einschränkt, um der Krise Herr zu werden und sich selbst zu erhalten. Immerhin hätte die „gegenwärtige Krise […] das Potential das Vertrauen in die demokratischen Institutionen in Deutschland nachhaltig zu erschüttern. Dem kann und muss entgegengewirkt werden“ (S. 17 des Strategiepapiers). Die Angst der politisch Herrschenden macht sich nicht am Leiden und Sterben der ihnen Unterworfenen fest, sondern richtet sich auf den befürchteten Vertrauens- und Legitimitätsverlust. Dies wird nicht zuletzt deutlich im Strategiepapier des Innenministeriums, welches am 27.03. bekannt wurde. Darin heißt es unmissverständlich: „Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnten [sic!] im Sinne einer ‚Kernschmelze‘ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einem völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert“ (S. 8). Zugegebenermaßen erscheint diese Aussicht doch etwas zu optimistisch, denn anarchistisches Denken, Fühlen und Handeln sind mitnichten soweit in der Bevölkerung verbreitet und verinnerlicht, als dass wir uns jener Hoffnung zu leichtfertig hingeben sollten. Vielmehr gilt es aktiv zur Ausbreitung des libertären Sozialismus beizutragen, anstatt auf den Gang historischer Zwangsläufigkeiten zu vertrauen.
Dennoch wird in dieser Aussage deutlich, dass die Bundesregierung, welche dieser Linie weitgehend zu folgen scheint, in der Krisensituation selbst vom Extrem her denkt, um ihre Handlungsfähigkeit zu behaupten, ihre Legitimität zu erneuern und sich aufgrund ihres langfristig angelegten Selbsterhaltungsinteresses auch selbst zu transformieren, sprich: Die Krise als Chance zu nutzen. Nicht von ungefähr lautet daher der Schlusssatz des Papiers: „Nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsam distanziert voneinander kann diese Krise nicht nur mit nicht allzu grossen Schaden überstanden werden, sondern auch zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat“ (S. 17).
Um dieses Meta-Ziel zu erreichen, gilt es alles dafür zu tun, das „Worst-Case-Szenario“ der Seuche zu verhindern, weil es der deutschen Volkswirtschaft immensen Schaden zufügen würde. „Kommunikation“, „Geschlossenheit“, „Nachvollziehbarkeit“ und die „Mobilisierung“ der Zivilgesellschaft (S. 1f.) lauten daher die Devisen des Krisenmanagements. Hierbei sollten wir uns keinen Illusionen hingeben, wozu dies dient, denn die „deutsche Volkswirtschaft ist eine Hochleistungsmaschine, die Jahr um Jahr ein hohes Maß an materiellen Wohlstand und allen Bürgern zugänglichen öffentlichen Gütern wie einer umfassenden Gesundheitsversorgung und öffentlicher Sicherheit bereitstellt. Ihre Leistungsfähigkeit wird von einem hohen Maß an Arbeitsteilung innerhalb und außerhalb des Landes getragen. Die Voraussetzung dafür ist, dass der überwiegende Teil aller bestehenden Unternehmen und Arbeitnehmern einsatzfähig ist und die Integrität des Gesamtsystems nicht in Frage gestellt wird. Genau dies macht die Volkswirtschaft auch so anfällig wie einen Hochleistungsmotor, denn nur das gleichzeitige Funktionieren all seiner Bestandteile wahrt die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems“ (S. 8).
Damit die BRD nicht in den „Abgrund“ (Szenario 4) gerät und möglichst das „lange Leiden“ (Szenario 3) verhindert wird, gilt es das Szenario 2 „Rückkehr der Krise“ anzustreben, da die „Schnelle Kontrolle“ (Szenario 1) als unwahrscheinlich angesehen wird (vgl. S. 9-11). Damit werden weitere Ausgangsbeschränkungen für den Herbst und eventuell das folgende Jahr als wahrscheinlich eingestuft. Solange jedenfalls die Testkapazitäten für das Virus nicht aufgebaut sind, „bleibt nur der ‚Holzhammer‘ (‚The Hammer‘) der starken sozialen Distanzierung, ungeachtet des genauen Infektionszustandes aller Betroffenen“ (S. 8). Sprich, im Grunde genommen ist sowohl politisch als auch medizinisch hoch umstritten, ob die allseits panisch geforderte und pingelig kontrollierte Forderung nach der „sozialen Distanzierung“ überhaupt wesentlich zur Bekämpfung der Pandemie beiträgt. Doch Vorsorge ist besser als Nachsorge. Die gesellschaftlichen Folgekosten dieser Strategie werden in der Rechnung kapitalistischer Verwertungsinteressen und staatlicher Herrschaftslogik allerdings mit keiner Silbe erahnt, geschweige denn erwähnt.
In diesem Zusammenhang stellt sich für linksradikale und andere Akteur*innen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen jedoch die Frage, wie mit den veränderten Handlungsbedingungen, die aus dem Krisenmanagement resultieren, umzugehen ist. Sie bestehen in einem weitreichenden Versammlungsverbot, im Verbot und der Ächtung von Gruppentreffen und Veranstaltungen, der massiven Verlagerung der Organisierung ins Internet, einer moralisch überhitzten Einstellung in Hinblick auf „angemessene“ Verhaltensweisen, sowie dem fast gänzlichen Verzicht auf eine radikale Kritik am Krisenmanagement und den daraus erwachsenden Folgen. Mit dem „USA PATRIOT Act“ wurden nach 9/11 weitreichende demokratische Grundrechte bis heute vollständig außer Kraft gesetzt und 2015 durch den „USA Freedom Act“ weiterhin stillgelegt. Das dahinter stehende sogenannte „Sicherheitsparadigma“ wurde auch in Frankreich nach den Anschlägen auf das Bataclan am 13.11.2015 durch die dortige Notstandsverordnung durchgedrückt (was unter anderem zur Verhinderung des Protestes gegen den Klimagipfel führte) und anschließend ins geltende Recht überführt. Aufgrund dieser Erfahrungen ist davon auszugehen, dass die Einschränkung demokratischer Rechte in den Nationalstaaten weltweit und auch der BRD, keineswegs vollständig zurückgenommen werden. Im Gegenteil, es werden soziale Kämpfe darum zu führen sein, um sie wieder zu gewinnen.
Daher kann die aktuelle Situation aus dreierlei Gründen als pandemischer Ausnahmezustand bezeichnet werden. Erstens ist ihr Anlass eine Seuche, das heißt ein unsichtbarer, unbekannter und tendenziell allgegenwärtiger Feind, den auch die Bundesregierung als solche benannt und den Vergleich mit dem Krieg nicht gescheut hat. Dieses produzierte Feindbild füllt die notwendige Lücke der Gegnerschaft, durch deren Bekämpfung sich die bestehende Herrschaftsordnung zu stabilisieren anstrebt.
Zweitens handelt es sich um eine globale Krise, welche vergleichbar der (weiterhin existenten!) Klimakrise Menschen weltweit ein merkwürdiges Gefühl der Verbundenheit erleben lässt, gleichzeitig jedoch in den meisten Ländern der Gegenwartsgesellschaft zu einem massiven Ausbau von Repression und der Stärkung autoritärer Tendenzen führt. Denn der Autoritarismus entfaltet eine ungeheure Sogwirkung, wo seine Mechanismen (bspw. Tracing von Smartphones, zwangsweise Isolierung von Infizierten und ihrem Umfeld, Einsatz des Militärs im Inland, Manipulation der öffentlichen Meinung etc.) sich als effizient für die Krisenbewältigung erweisen – oder zumindest so dargestellt werden. Obwohl die Pandemie dort bisher nur in sehr geringem Umfang angekommen ist, regiert Viktor Orban in Ungarn seit dem 30. März auf unbestimmte Zeit per Dekret – was einer faktischen Abschaffung der Demokratie gleichkommt.
Sicherlich läuft die Politik in der BRD ihren eigenen Gang. Aufgrund der Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals und der Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche besteht dennoch auch hierzulande ein hartes Interesse an der Ausweitung autoritärer Maßnahmen und Gesetzgebungen. Dafür bietet nicht zuletzt das Zustandekommen der derzeitigen Krisenbewältigungsgesetze ein anschauliches Beispiel.
Drittens ist der eingesetzte Ausnahmezustand als pandemisch zu bezeichnen, weil er tatsächlich tiefgreifend in das gesellschaftliche Leben hinein wirkt und von nun an prinzipiell immer ausgerufen werden kann. Von dieser Ausnahme her die Souveränität der Herrschaft zu denken, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben es tut, ergibt daher durchaus Sinn. Gerade das macht Maßnahmen wie verhängte Ausgangssperren oder auf einer anderen Ebene die Aufforderung zur „sozialen Distanz“ ja so gefährlich: Sie etablieren tatsächlich graduell bestimmte Verhaltensweisen in der Bevölkerung beziehungsweise verstärken sie. Daher gilt es aus herrschaftskritischer Perspektive eine deutliche Kritik an der sogenannten „Zivilgesellschaft“ zu üben. Es zeigt sich, dass diese tatsächlich als weitreichender Vorhof staatlicher Herrschaft zu verstehen ist, wie Antonio Gramsci theoretisierte. Wenn Menschen sich in ihren Nachbarschaften selbst organisieren und gegenseitig helfen, ist dies in den meisten Fällen allerdings nicht das selbe, wie wenn sie von staatlichen Behörden als „Zivilgesellschaft“ adressiert und damit auch instrumentalisiert werden. So können wir auch deutlich lesen: „Neben umfassender Information und Aufklärung von Seiten staatlicher Behörden, ist der Staat in besonderer Weise auf die zivilgesellschaftliche Solidarität angewiesen. Dieses ‚Zusammen‘ muss mitgedacht und mitkommuniziert werden. Dazu braucht es ein gemeinsames Narrativ (#wirbleibenzuhause, oder ‚gemeinsam distanziert‘ – ‚physische Distanz – gesellschaftliche Solidarität‘) und im besten Fall viele Gesichter (Prominente, Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler), die sich mit der Kampagne identifizieren. […] Die Nachbarschaftsgemeinschaft wird mobilisiert, um mit der Versorgung der Personen in Heimquarantäne mitzuhelfen und um Risikogruppen abzuschirmen. […] diesen Helferinnen und Helfern gilt schon jetzt politisch zu danken und sie zur Verstärkung ihrer Aktivitäten aufzufordern und gleichzeitig für die Eigeninitiative zu loben“ (S. 17).
Bitte das tun wir gern. Und danke an die politischen Strateg*innen, dass sie um das „Worst Case Szenario“ zu vermeiden, gezielt die Urängste von Menschen ansprechen, Kindern Angst machen und vor nicht erwiesenen Langzeitfolgen von Covid-19 warnen wollen (vgl. S. 12). Eine angemessene Entlohnung für die Arbeitenden im Gesundheitssystem oder eine Transformation der Gesellschaft, damit die Bedingungen für ein gelingendes Leben für alle geschaffen werden, wären aber deutlich besser. Dazu müsste allerdings eine soziale Distanz zu Staat und Kapitalismus wieder erlangt werden. Mit dieser Herangehensweise könnten wir neu überdenken, was Solidarität und soziale Freiheit für uns bedeuten und unsere Handlungsfähigkeit auch unter den neuartigen und uneindeutigen Bedingungen wiedererlangen.

Der Kemmerich-Höcke-Putsch – das Minutenprotokoll

In Thüringen fand am 5. Februar 2020 die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten statt. Die Auswirkungen dieses denkwürdigen Ereignisses wurden zu einem bundesweiten Politikum. Um diese Entwicklungen für die Nachwelt zu konservieren, gibt es hier das offizielle Minutenprotokoll von Ox Y. Moron.

Aus den Landtagswahlen vom 27. Oktober 2019 war die bisher regierende Mitte-Links-Regierung ohne Mehrheit hervorgegangen. Die neue Mitte-Rechts-Mehrheit sah sich zur Regierungsbildung allerdings auch nicht imstande, da das politische Klima in der Bundesrepublik noch keine offenen Koalitionen von CDU/FDP mit der AfD hergibt. Und so versuchte es die bisherige Regierungskoalition aus Linken, SPD und Grünen als Minderheitsregierung. Akt eins dieses Versuchs wäre die Wahl Bodo Ramelows zum Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 gewesen. Dass es dazu nicht kam, ist einem durch die AfD vorbereiteten Coup zu „verdanken“. Inwiefern es dazu im Hintergrund Gespräche zwischen CDU, FDP und AfD gab und auf welchen Ebenen diese stattfanden, ist großteils Spekulation. Unbestreitbar ist, dass die AfD ihre Absicht, die rechte Mehrheit im Thüringer Landtag zu nutzen und Ramelow zu stürzen, offenlegte und sich CDU und FDP als Steigbügelhalter anboten. Unbestreitbar ist weiterhin, dass die AfD für ihren Putsch zwei nützliche Dumme brauchte. Den ersten fand sie im Bürgermeister irgendeiner Kuhbläke in Nordthüringen. Christoph Kindervater heißt der Mann und beschreibt sich als Anhänger der Werteunion, einem Außenposten der AfD innerhalb der CDU/CSU. Im MDR-Interview plapperte er irgendwas von ‚man müsste die Kommunisten stoppen, weil man ja sehe wohin der Mietendeckel in Berlin führe‘. Gut. Der zweite nützliche Dumme war Thomas Kemmerich himself, ein Unternehmer, der in der Vergangenheit vor allem mit seinem Engagement gegen den Mindestlohn glänzte. Kemmerich ist Chef der Friseurkette „Masson“ und sich sicher, dass drei bis vier Euro Stundenlohn fürs Haareschneiden, -färben, -frisieren, etc. schon reichen.
Die AfD schickte also den antikommunistischen Blockwart erwähnter Kuhbläke als eigenen Kandidaten gegen Ramelow ins Rennen. In diesem Moment sah Thomas Kemmerich, glühender Anhänger seiner selbst und gefangen in Ideologie und Jargon der Extremismus-Doktrin seine Stunde gekommen. Mit reichlich Pathos verkündete er als „Kandidat der Mitte“ in einem dritten Wahlgang ins Rennen zu gehen. Damit ging die Rechnung von Höcke und Konsorten auf. Der Wahltag kam und legte den Grundstein für turbulente Wochen in Thüringen.

5. Februar
12.00 Uhr: Der erste Wahlgang bringt das vorhersehbare Ergebnis: R2G für Ramelow, AfD für Kindervater, CDU/FDP Enthaltung.
12.30 Uhr: Zweiter Wahlgang, gleiches Ergebnis.
13.15 Uhr: Nach der Verkündung der Wahlantritts von Thomas Kemmerich und einer Unterbrechung der Sitzung findet Wahlgang Nummer drei statt, mit einem vorhersehbaren, aber am Ende doch überraschenden Ergebnis: R2G+2 für Ramelow (44 Stimmen), eine Enthaltung, CDU/FDP/AfD-2 für Kemmerich (45 Stimmen), niemand für den Blockwart aus Dings.
13.20 Uhr: Thomas Kemmerich, ein Mann der ständig in der dritten Person von sich selbst redet, steht auf, knöpft sich das Jackett zu und nimmt die Wahl an. Die AfD feiert innerliche und äußerliche Reichsparteitage. Die Abgeordneten von R2G gucken versteinert zu.
13.30 Uhr: Der Königsmacher Bernd Höcke gratuliert seinem Ministerpräsidenten. Das Bild geht um die Welt, häufig garniert mit einem Hitler-Hindenburg-Vergleich. Überhaupt war nun die Zeit der NS-Vergleiche und historischen Superlative gekommen.
13.34 Uhr: Die Produktion großer Bilder für den Jahresrückblick 2020 geht weiter. Susanne Hennig-Welsow (Thüringer Linkspartei-Vorsitzende) pfeffert Kemmerich statt warmer Worte einen Blumenstrauß vor die Füße. Ehrenmove des Jahres.
13.40 Uhr: Die Sitzung wird unterbrochen. In den Studios der TV-Anstalten bereitet man die Extras, Brennpunkte und Spezials vor.
13.45 Uhr: Die politische Linke ringt noch um Fassung. Über das Label dessen, was da gerade passiert ist, wird noch verhandelt. Zur Wahl stehen: Zivilisationsbruch (Böhmermann), Kulturbruch (Grüne), Dammbruch (SPD), Sündenfall (CDU), Kemmerich-Höcke-Putsch (ich). Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass es weder bei linken noch konservativen Parteien und Kommentatoren irgendeine Hemmung gibt, die AfD, die man zuvor noch als „Rechtspopulisten“ verharmloste, als faschistische Partei zu bezeichnen. Nun gilt generell: Lieber 10.000 rechte Arschlöcher zu Unrecht als Faschisten deklariert als eines zu wenig – solange es der Bekämpfung von Menschenfeinden dienlich ist. Allerdings entbehrt solches Reden jeder vernünftigen und differenzierten Analyse der AfD als politischer Organisation. Wenn bald jeder Law and Order-Depp und Marktradikale, der sich bei der AfD eingefunden hat, als Faschist gelabelt wird, droht die Waffe der Stigmatisierung dieser Personen zu verstumpfen und statt einer Kritik, die noch in der Lage ist, die Welt zu verstehen und damit planvoll zu verändern, bleibt die leere Empörung.
13.50 Uhr: FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki (Hybris-Level nahe dem Kemmerich-Niveau) gratuliert und spricht von einem großartigen Erfolg.
15.30 Uhr: Kemmerich hält, nach zweistündiger Unterbrechung der Plenarsitzung, die kürzeste Antrittsrede in der Geschichte von Antrittsreden. Inhalt unwesentlich. Häufige Unterbrechungen aus den Reihen der R2G-Fraktionen. Minister kann Kemmerich keine benennen.
15.35 Uhr: Die FDP-Fraktion beantragt die Vertagung. Durchgesetzt mit den Stimmen der faktischen blau-schwarz-gelben Regierungskoalition.
16.00 Uhr: Eskalation der Lage auf allen Kanälen. Bundesweit gehen tausende Antifaschistinnen und Antifaschisten auf die Straße. Diese Demonstrationen reißen auch in den kommenden Tagen nicht ab und sind ein nicht zu unterschätzender Faktor dafür, dass die Skandalisierung dieses Eklats gelang.
17.00 Uhr: Christian Lindner (FDP-Bundesvorsitzender, tolle Frisur) laviert und hält sich zunächst alle Optionen offen. Eine Regierungsbildung unter Kemmerich scheint zunächst möglich, allerdings – und das ist rechnerisch unmöglich – ohne Beteiligung von AfD (remember: die Königsmacher) und Linkspartei. Lindner versucht, aus nachvollziehbaren Gründen, Schnittmengen zwischen FDP und AfD zurückzuweisen. Dabei bestand die AfD-Gründungsgeneration zu großen Teilen aus ehemaligen FDP-Unterstützern wie Hans-Olaf Henkel und Konrad Adam. Was AfD und FDP verbindet, sind nicht nur ihr Antikommunismus, sondern die soziale Kälte, die Neoliberalismus und Protofaschismus gemeinsam ist. Die allgegenwärtige Rede von den „Brandmauern nach Rechts“ ist mehr Zeichen eines Versuchs, sie, weil nicht da, herbeizureden.
18.00 Uhr: In Berlin spricht aus der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) eine Mischung aus Hilflosigkeit und Machtwort. Sie findet deutliche Worte und verbietet der Landes-CDU die Mitarbeit in einem Kemmerich-Kabinett. Damit ist die Kemmerich-Höcke-Mohring-Regierung nach knapp fünf Stunden faktisch am Ende.
19.39 Uhr: Bodo Ramelow hat seine Twitter-Zugangsdaten wiedergefunden und zwitschert irgendeinen NS-Vergleich durch die sozialen Hetzwerke (1).
20.00 Uhr: In einem Fernsehinterview weist Kemmerich jede Absicht, mit der AfD zu paktieren von sich. Regieren werde er ausschließlich ohne die Hilfe von AfD und Linkspartei. Mit welcher Mehrheit? Wer weiß das schon.
20.15 Uhr: Es hagelt ARD-Brennpunkte, ZDF-Spezials und Sondersendungen.

6. Februar
10.32 Uhr: In Pretoria unterbricht Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Stippvisite durch die ehemaligen Kolonien für eine Durchsage: „So geht das nicht. Bruch der Parteilinie. Spinnt der Mohring eigentlich völlig? [rhetorische Frage] Alles bitte nochmal auf Anfang!“ (sinngemäße Wiedergabe)
12.07 Uhr: Zwischenzeitlich sind FDP-Chef Lindner, sein Friseur, ein Rhetorik-Coach, die Marketingabteilung der FDP sowie ein Taschenrechner in Erfurt eingetroffen. Nach mehrfacher Überprüfung dann das überraschende Ergebnis: 27 (Gesamtzahl der CDU/FDP-Abgeordneten im Landtag) ist tatsächlicher kleiner als 46 (rechnerische Mehrheit). Damit war nicht zu rechnen. Schließlich kennt man sich in der FDP, Lobbyorganisation des Kapitals, eigentlich mit Zahlen aus. Nicht.
14.14 Uhr: Die für 14 Uhr angekündigte Pressekonferenz von Thomas Kemmerich beginnt. Höckes Ministerpräsident vollzieht den Kurswechsel, stellt Neuwahlen in Aussicht und verkündet seinen Rücktritt oder sowas ähnliches.
23.59 Uhr: AKK verlässt die Sitzung der CDU-Landtagsfraktion ohne vorzeigbare Erfolge. Ihr Ende als Merkels Wunschnachfolgerin ist damit ebenfalls bereits besiegelt.

7. Februar
8.49 Uhr: Die Werteunion (Parteirechte der CDU, die noch nicht vollständig zur AfD übergelaufen ist) will eine „Expertenregierung“ unter Kemmerich. Keine Pointe.
9.37 Uhr: Raymond Walk (Thüringer CDU-Generalsekretär, Landtagsabgeordneter, Bulle) stellt die Tolerierung Ramelows bei einer Neuwahl des Ministerpräsidenten in Aussicht. Grund für den Gesinnungswandel: Laut aktuellen Wahlumfragen stünde die CDU vor einer Halbierung ihrer Mandate bei Neuwahlen des Parlaments, die FDP würde aus dem Landtag ausscheiden und R2G stünde kurz vor einer 2/3-Mehrheit. Der moralische Punktsieg ging zweifellos an Ramelow und die seinen. Für die CDU wurde der Pakt mit den Protofaschisten zum Eigentor.
15.16 Uhr: Thomas Kemmerich verkündet vorerst den Rücktritt vom Rücktritt. Schließlich brauche Thüringen ein Regierungsmitglied, das wichtige Entscheidungen treffen könne. Wer das sein soll, sagte der Glatzkopf, der vielleicht nicht braun, aber ganz sicher hohl ist, nicht. Dass er sich meinte, mutet irre an. Aber so irre sind diese Zeiten eben.
16.15 Uhr: Ramelow bietet an, erneut zu kandidieren, wenn die CDU oder die FDP ihn stütze. Den Joker, als Sieger aus Neuwahlen hervorzugehen, spielt R2G nun aus: Entweder CDU/FDP wählen Ramelow oder sie verabschieden sich von einem Dutzend Mandaten.

8. Februar
10.00 Uhr: Angela Merkel greift durch. Ein bisschen. Mit Christian Hirte, dem CDU-Landesvize, wird der Ostbeauftragte des Bundes geschasst. Er hatte Kemmerich im Überschwang der Ereignisse zur Wahl gratuliert.
14.00 Uhr: Thomas Kemmerich verkündet den Rücktritt vom Rücktritt seines Rücktritts. Diesmal vielleicht wirklich. Denn: Geschäftsführend bleibt Höckes Mann in der Staatskanzlei noch im Amt.

9. Februar
Es ist Sonntag. Waffenruhe bei Klößen mit Rotkraut und Rouladen.

10. Februar
AKK wirft hin. Der Kemmerich-Höcke-Putsch fordert sein erstes prominentes Opfer. Die designierte Nachfolgerin Angela Merkels als ewige Kanzlerin scheitert beim Versuch, den Thüringer CDU-Landesverband zur Ordnung zu rufen und zieht die politischen Konsequenzen. Um die Nachfolge bewirbt sich ihr früherer Herausforderer Friedrich Merz, aktuell Cheflobbyist von Blackrock in Deutschland. Schlimmer geht immer.

11. Februar
Die Thüringer CDU verhandelt inzwischen mit R2G über einen Ausweg aus der Krise. Es dümpelt vor sich hin. Der Konflikt der CDU: Der in der Partei ganz rechts stehende Landesverband würde zwar ohne Weiteres zusammen mit Höcke irgendeinen Horst von der FDP wählen, aber niemals einen Sozialdemokraten aus der Linkspartei. Schnelle Neuwahlen will man aber auch keine, denn noch mehr als an der Staatsräson hängen die Abgeordneten an ihren Diäten.

12. Februar
Der Bernd Höcke der Thüringer CDU, Michael Heym erklärt die Wahl von Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD einkalkuliert zu haben und für gut zu befinden. Der Meininger Landtagsabgeordnete ist Vizechef der CDU-Landtagsfraktion und war Initiator eines offenen Briefes im Vorfeld der Ministerpräsidentenwahl am 5. Februar, der die CDU zu Verhandlungen mit der AfD aufforderte. Und Heym ist keine Ausnahme, sondern nur ein Beispiel für einen CDU-Landesverband, in dem die Werteunion die Meinungshoheit fest inne hat.

14. Februar
Nach dem Rücktritt als CDU-Fraktionschef gibt Mike Mohring nun auch den Posten als CDU-Landesvorsitzender auf. Ciao.

15. Februar
Fast 20.000 Menschen demonstrieren in Erfurt gegen den Kemmerich-Höcke-Putsch. Zeitgleich gelingt in Dresden – trotz Mobilisierungskonkurrenz von Mitte-Links – dennoch ein Blockade gegen die trauernden Nazis zum großen Bomben-Jubiläum an der Elbe.

17. Februar
Die Linkspartei schlägt Ex-Ministerpräsidentin Lieberknecht (CDU) als Interims-Ministerpräsidentin mit wenigen Übergangsministern bis zur Neuwahl in wenigen Wochen vor und bringt die Thüringer CDU in schwere Bedrängnis, da sie erstens gar keine Neuwahlen will (Mandatsverluste) und zweitens, ganz rechts stehend, keine Kandidatin wählen will, die so etwas ist wie die Angela Merkel Thüringens.

18. Februar
Die CDU kontert Ramelows Vorschlag. Sie will eine ganze Regierung – wenn es sein muss unter Lieberknecht –, besetzt mit „Experten“. Die Motivation ist klar: Mandatssicherung und Neuwahlen erst, wenn die CDU wieder bei 30% steht, statt wie aktuell bei zwölf. Das geläufige Narrativ dieser Tage lautet: „Lösungen für das Land.“ In Wahrheit heißt es bei der CDU längst: Rette sein Mandat, wer kann. Kemmerich und seine FDP sind inzwischen völlig untergetaucht. Gerüchteweise weiß man nichtmal in der Staatskanzlei, wo sich der Chef (Kemmerich) aufhalte und wie man ihn erreiche.

19. Februar
Lieberknecht ist das Gezerre zu doof. Sie sagt ab mit dem Hinweis, nur für die Lösung Ramelows zur Verfügung gestanden zu haben.
Am Abend, rassistischer Anschlag in Hanau: Ein Deutscher tötet rassistisch motiviert in Hessen neun Menschen, seine Mutter und sich selbst. Weitere Menschen werden verletzt. In Kesselstadt herrscht Entsetzen, bundesweite Demonstrationen gegen Rassismus, rechte Gewalt und den versagenden Staat.

21. Februar
Es gibt einen Kooperationsvertrag zwischen R2G und CDU. Letztere ermöglicht die Wahl Ramelows (wie, weiß keiner) und bekommt Neuwahlen erst in einem Jahr. Außerdem einigt man sich darauf, dass zukünftige Entscheidungen im Landtag niemals durch Mehrheiten erreicht werden dürfen, die nur die AfD ermöglicht hat. Wer‘s glaubt.

22. Februar
Die Thüringen-CDU darf nicht, wie sie will und wird aus Berlin zur Ordnung gerufen. Der Kooperationsvertrag steht wieder auf der Kippe, ein Bundesparteitagsbeschluss fordert: Keine Zusammenarbeit mit der Linkspartei.

23. Februar
In Hamburg gibt’s die Quittung für Thüringen: Die CDU verliert bei der Bürgerschaftswahl massiv, die FDP fliegt aus dem Stadtparlament.

2. März
Kurz vor der Neuwahl des Ministerpräsidenten am 4. März 2020 gibt Bernd Höcke bekannt, nun selber zu kandidieren. Welche Strategie dahinter steht, bleibt ungewiss.

3. März
Die FDP kündigt an, den Plenarsaal während der Abstimmungen verlassen zu wollen. Ein Coronavirus-Verdacht in den Reihen der CDU-Landtagsfraktion stellt den Zeitplan auf die Kippe.

4. März
Wahltag. Wieder drei Wahlgänge. Im dritten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. R2G stimmt geschlossen für Ramelow (42 Stimmen), die AfD für Höcke (23 Stimmen), die CDU enthält sich (22 Stimmen) und die FDP bockt (5 Stimmen). Damit ist Ramelow wieder Ministerpräsident und Thomas Kemmerich, in den Worten seines Parteifreunds Tobias Huch, ein klassischer Idiot.
Die Geschichte dieses denkwürdigen Monats in der Thüringer Parlamentsgeschichte war damit aber nicht vorbei. Am Tag darauf setzte die AfD die Wahl eines Landtagsvizepräsidenten aus ihren Reihen auf die Tagesordnung. Ein Manöver, das in der Vergangenheit nie ausreichende Mehrheiten fand. Diesmal fand sich eine Mehrheit, die Michael Kaufmann wählte. Da es im Thüringer Landtag eine Mitte-Rechts-Mehrheit gibt, ist das auch nicht weiter verwunderlich. Weitaus verwunderlicher war, dass sich ein Wähler Kaufmanns tags drauf zu erkennen gab: Bodo Ramelow. Aus staatspolitischer Verantwortung heraus, habe Ramelow den AfD-Mann gewählt, um eine Erpressungssituation aufzulösen. Die AfD blockierte den Wahlausschuss für die Wahl von Richtern und Staatsanwälten mit dem Ziel, einen eigenen Landtagsvize zu erzwingen. Dieser Erpressung gab Ramelow nach, „dem Land zu liebe“. Und so wählte der Mann, der am Tag zuvor noch Bernd Höcke den Handschlag verweigerte, einen AfD-Mann in ein Staatsamt. Thüringen at it‘s best. Fortsetzung folgt.


1
Über die verheerende Verbindung von Ramelows emotionaler Twitterei, autoritärem Denken und reichlich Rotwein, schrieb ich in der Lirabelle #13, mit dem Resultat, dass dieser Zeitschrift die Fördergelder entzogen wurden.

Antisexismus in Theorie und Praxis

Im Artikel zeigt Hermine Danger auf, mit welcher Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit man es zu großen Teilen in der Linken zu tun hat, wenn Übergriffe und Vergewaltigungen in der eigenen Szene passieren.

Dass keine Klasse und kein Milieu vor sexualisierter Gewalt Halt machen, ist nichts Neues. Spätestens seit #Metoo wurde Licht auf die dunklen Seiten des Filmbusiness und der Medienbranche geworfen und häusliche Gewalt ist in Corona-Zeiten wieder verstärkt Thema. Und dennoch, die Dunkelziffer der Sexualstraftaten liegt bei 95%. Dabei scheinen Milieus und Gruppierungen sehr verschieden mit sexualisierter Gewalt umzugehen.
Über eine Vergewaltigung während eines HGichT – Konzertes in den eigenen Räumlichkeiten Ende letzten Jahres berichtete das Conne Island in Leipzig.1 Anfang Januar ist bekannt geworden, dass ein Typ (im weiteren Verlauf als H. bezeichnet), der von Anfang an bei Monis Rache, einem linken Festival mit emanzipatorisch-feministischem Anspruch mitgearbeitet hat, versteckte Aufnahmen von Frauen auf Dixi-Klos gemacht und diese in der Pornoplattform ‚xhamster‘ hochgeladen hat.2 Ende Januar entdeckte auch die Fusion, dass auf einer Dusche heimliche Aufnahmen gemacht und auf selbiger Plattform hochgestellt worden waren, mit bis zu 37.000 Aufrufen je Video.3 In Erfurt hat das veto einen Spanner geoutet, der u.a. in der linken Szene unterwegs war.4

Der Fall Monis Rache – wie aus Feminist*innen Täterschützer*innen werden

Im Fall von Monis Rache informierte die Journalistin einen Teil der Organisator*innen des Festivals. Der Erstkontaktkreis (im weiteren Verlauf: EKG) des Täters, entschied sich für das Konzept der transformative justice und gegen eine strafrechtliche Verfolgung. Als Beweggrund wird der Schutz der Betroffenen genannt. Der transformative justice Ansatz lehnt alle Formen von Gewalt ab und sieht gleichermaßen die strukturellen Zusammenhänge zwischen einer gewaltausübenden Person und der Gesellschaft, die Gewalt institutionell hervorbringt und reproduziert. Die gewaltausübende Person übernimmt hierbei Verantwortung für die Tat und versucht ihr Verhalten mit Hilfe einer Unterstützer*innengruppe zu reflektieren und zu ändern, sowie eine Widergutmachung anzustreben. Diesem Konzept und dem eng verwandten und mitdiskutierten Konzept der community accountability gehen die Beobachtungen voraus, dass marginalisierte Personen wie Frauen* und Trans-Personen of Colour, sowie queere und nicht-binäre People of Colour die im Alltag Diskriminierung, sowie Belästigung und sexualisierter Gewalt, auch durch staatliche Behörden ausgesetzt sind. Das Konzept sieht deshalb im Staat keine Institution, die Sicherheit gewährleisten kann. Ein Beispiel wäre, wenn die Betroffene von sexualisierter Gewalt, keine Papiere hat. Wenn diese Frau sexualisierte Gewalt erfährt, hat sie eine geringe Chance, die Straftat anzeigen zu können und vor Gericht zu bringen. Fehlendes Geld für Anwaltskosten und Abschiebung sind Bedrohungszenarien, die verhindern, dass solche Fälle zur Anzeige gebracht werden. Wenn der Täter ebenfalls ein Mann ohne Papiere ist, droht ihm ebenfalls die Abschiebung. Da Betroffene und Täter als marginalisierter Gruppen staatliche Gewalt erfahren, versucht der Ansatz der transformative justice einen anderen Umgang damit zu finden.

Wer ist eigentlich die Community?

Das Konzept der community accountability sieht die Verantwortung zur Einsicht, Verantwortungsübernahme und Veränderung des Täters in der Community, wo sich der Übergriff vollzogen hat. Der Begriff der Community beschreibt Zusammenhänge, dessen Mitglieder sich in einem solidarischen Verhältnis sehen. Das können einerseits gemeinsame Werte, Glaube oder Politik sein oder eine marginalisierte Position in der Gesellschaft. Diese Communities können lokal wie global existieren. In den USA sind community accountability und transformative justice (im Weiteren: TJ-CA) als Intervention in cis-männerdominierten antirassistischen Kontexte als auch in weißdominierten feministischn Räume, so Melanie Brazzell, entstanden. Doch von Community lässt sich in diesem konkreten Fall kaum sprechen, bzw. wären dann alle Festivalbesucher*innen oder alle Linksradikalen oder nur die Orga-Gruppe von Monis Rache die Community? Welche der Gruppen dabei auch immer im Fokus stehen sollte, bei allen drei Gruppen wurde das Konzept hart verfehlt, da nicht mal die Monis Rache Orga-Crew von Anfang an eingeweiht wurde. Das scheint auch einer der Fallstricke zu sein, da diese imaginierte Community, die gemeinsam in einen Lernprozess treten sollte, erstmal gar nicht gegeben war. Und abgesehen davon, dass eine kleine Gruppe darüber entschieden hat, dass die Taten von H. innerhalb der Community bearbeitet werden sollten, muss man sich fragen, ob die potenziell betroffenen Frauen* etwa nicht Teil dieser Community sind? Daran zeigt sich, dass der EKG ein gewisser Paternalismus unterstellt werden muss, da sie für die Betroffenen entschieden haben, was ein richtiger Umgang damit sei. Je nachdem, wie das Umfeld hier definiert ist, ob alle Festivalbesucher*innen das Umfeld darstellten oder nicht, in beiden Fällen wurde mit ihnen intransparent umgegangen.
Auch wenn man im strafrechtlichen Sinne keine Schuld trägt als EKG, hat sie massiven Täterschutz betrieben. Wie soll den Opfern Sicherheit gegeben werden, wenn sie nicht in Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden? Dass Frauen* mit Fluchthintergrund, die Gewalt durch den Partner erfahren, auf der Arbeit oder auf der Straße belästigt und schikaniert werden, bei Anzeige in die Gefahr laufen ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, erhöht den Druck auf sie immens, andere Umgangsformen damit zu finden. Wenn sexualisierte Gewalt im Kontext einer kriminalisierten Überlebensstrategie wie bspw. der illegale Aufenthalt oder während einer Beschäftigung im informellen Dienstleistungssektor geschieht, dann können Betroffene häufig nicht auf die Staatsmacht zurückgreifen, da hierbei häufig eine Täter-Opfer Umkehr gemacht wird und der Staat Gewalt gegen die von sexualisierter Gewalt betroffenen Person ausübt. Trans-Personen werden pathologisiert, Frauen* wird auf der Wache nicht geglaubt, auch wenn sie eine sicheren Rechtsstatus haben wie beispielsweise schwarze Frauen in den USA. Frauen* und Trans-Personen werden zu Täter*innen gegen das geltende Recht, und nicht primär als Opfer einer Sexualstraftat behandelt.
Doch H. gehört keiner zuvor genannten marginalisierten Gruppe an und hat somit das Privileg eines sicheren Aufenthaltsstatus und das ein Mann zu sein. Deswegen ist die Übertragung des Konzeptes, welches von marginalisierten Gruppen entwickelt wurde, auf den Umgang in diesem Fall erstmal fragwürdig. Der TJ-CA Ansatz wurde bereits von linken Gruppen oder Projekten im Kontext sexualisierter Gewalt angewendet. Dass linke Menschen schlechte Erfahrungen mit Bullen machen, beispielsweise auf Demonstrationen – geschenkt. Aber eine Demonstration nicht mehr von sexualisierter Gewalt unterscheiden zu können oder zumindest einen gleichen Maßstab an den Umgang daran zu legen, ist mehr als verharmlosend.

TJ-CA, alternative Strafsysteme und Intersektionalität

Der intersektionale Ansatz bei TJ-CA beschreibt, dass Menschen in Bezug auf Geschlecht, Klasse und Herkunft von Polizei und Justiz nicht gleichberechtigt behandelt werden. Jegliche Behauptung, die dem widerspricht, ist schlichtweg falsch. Doch die Schlussfolgerung im TJ-CA Ansatz daraus ist, dass man ein alternatives Bestrafungssystem schafft, um auf sexualisierter Gewalt reagieren zu können, ohne durch die Strafjustiz zusätzlicher Belästigung und Diskriminierung ausgesetzt zu sein, egal ob Opfer oder Täter. Eine praktische Konsequenz, die erst mal nicht aus der Theorie von TJ-CA hervorgeht, ist das Herausbilden eines alternativen Strafsystems. Wo alternative Strafsysteme bereits greifen sind beispielsweise Großfamilien- und Mafia-Strukturen, die einerseits marginalisiert sind und andererseits Rassismus erfahren. Ihre sozialen Systeme basieren auf streng hierarchischen Strukturen und dem Primat der Familie. Es gibt keine Transparenz darüber, was zulässig ist und was ein Grenzübertritt für Konsequenzen mit sich zieht. Vielleicht klingt der Vergleich von Mafia-Strukturen und TJ-CA erstmal etwas absurd, aber ich möchte an dieser Stelle weiterdenken, was es bedeutet, wenn jede ‚Community‘ ihre eigenen Rechtssmaßstäbe aufstellt.
Viele Konflikte können ohne Rückgriff auf das staatliche Rechtssystem gelöst werden, beispielsweise eine Prügelei oder ein Materialschaden oder Diebstahl. Sexualisierte Gewalt ist jedoch nicht nur eine erniedrigende Situation, die Opfer und Täter miteinander ausmachen sollten, sondern wo auch andere Frauen* und Trans-Personen das Recht haben davon zu erfahren. Abgesehen davon, dass es keine Kommunikation zwischen Täter und Betroffenen gab, die auf Dixi-Klos bei Monis Rache gefilmt worden sind, hat man auch andere Frauen (und auch Männer) der Möglichkeit beraubt, selbst darüber zu entscheiden, ob sie mit einem frauenverachtenden Spanner Zeit verbringen oder gar eine intime Beziehung aufbauen möchten.
Wenn jede Community ihr eigenes Rechtssystem entwickelt, gibt es auch wieder Ein- und Ausschlüsse. Wer darf dann nach welchem Recht behandelt werden? Im Grunde gibt es solche Konflikte auch auf zwischenstaatlicher Ebene. Schwer vorstellbar ist auch, dass ein alternatives System, das Community basiert ist, ganz ohne Zuschreibungen von Geschlecht, Klasse und Herkunft auskommen kann. Gerade da, wo man dem Stigma der diskriminierenden Zuschreibung entkommen möchte, entsteht der Zugzwang eben jene Kategorien anzuwenden, um überhaupt feststellen zu können, wer diesem Recht oder diesem Strafsystem überhaupt unterliegt. Anstatt an alternativen Bestrafungssysteme oder Rechtstrukturen, die nicht ohne einen Funken Willkür auskommen zu arbeiten, ist die bessere Strategie weiterhin an der Idee eines universellen Rechtes festzuhalten. Und damit meine ich nicht, strukturellen Rassismus, Sexismus und Klassismus, sowie Polizeiwillkür einfach hinzunehmen oder einfach wegzuschauen, wenn es eine*n selbst nicht betrifft, sondern auf kurze und mittlere Sicht Polizeigewalt und Willkür zu thematisieren, zu veröffentlichen und einander zu bestärken, dagegen auch rechtlich vorzugehen. Doch auch das ist leichter gesagt als getan, sind es doch die gleichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ungleichbehandlung von Judikative und Exekutive hervorbringen und es gleichermaßen erschweren, dagegen vorzugehen. Viel schlimmer noch, innerhalb der Exekutive scheint bereits eine alternative Strafjustiz und innerfamiliäre Herrschaft zu existieren, die den bürgerlichen Gesetzen nicht zu unterliegen scheint. Wenn es Anzeigen gegen die Cops gibt, herrscht eiserner Corpsgeist – und denjenigen innerhalb der Polizei, die gewillt sind gegen ihre Kollegen auszusagen, werden Prügel und Schlimmeres angedroht. Da wundert es nicht, dass die Aufklärungsrate von Polizeigewalt eine große Dunkelziffer ist, 93% der Ermittlungen werden fallen gelassen und das bei 2% der Fälle von Körperverletzung durch Polizei, die überhaupt zur Anklage gebracht werden.5 Das Recht auf Gleichbehandlung ist per Gesetz festgeschrieben, wird jedoch von Polizei und Staatlichen Behörden missachtet und umgangen. Wenn die Polizei als ausführende Gewalt selbst wie ein Racket auftritt, dann scheint ein grundlegendes Problem in der Umsetzung der Gewaltenteilung zu stecken, dass sich gesellschaftlich erstmal nicht zu lösen scheint. Die Prämissen von Gewaltenteilung, Vergesellschaftung von Rechtsstrukturen und unabhängiger Kontrolle sind auf dem Papier erstmal gegeben. Doch der Rückzug in die eigene Community und in die ‚eigene‘ Willkür scheint mir auch keine gute Lösung zu sein. Die Kontexte, in denen Menschen in alternativen Formen zusammenleben oder zusammenkommen, ob temporär auf einem emanzipatorischen, linken, feministischem Festival, in einem Hauprojekt oder einer Polit-Gruppe – diese Kontexte geben es alle nicht befriedigend her, dass Vorfälle häuslicher Gewalt und allgemeiner, sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Erwachsene, innerhalb der Kleinfamilie oder Community angemessen behandelt werden können. Ich frage mich auch, ob eine Community, die quasi nichts gegen Täter in der Hand hat, außer ihn zu verprügeln oder moralisch auf den Täter einzuwirken, überhaupt adäquat mit sexualisierter Gewalt umgehen kann.

Staat versus Community

Was uns eigentlich verbinden sollte, ist die Utopie einer befreiten Gesellschaft und die Arbeit daraufhin. Was wir brauchen ist keine private Selbstaufopferung für Täter und Täterschutzkonzepte, sondern die Voraussetzungen für eine Gesellschaft, in der wir uns unvermittelt aufeinander beziehen können und nicht durch Tauschbeziehungen. Abgesehen von Familie und Freund*innen ist unser Bezug zu den meisten Menschen, mit denen wir im Alltag zu tun haben, durch ein Dienstleistungsverhältnis gekennzeichnet. Um einen transparenten und menschenfreundlichen Umgang miteinander zu gewährleisten braucht es keinen Appell an die Moral oder an die Menschlichkeit, auch kein neues Justizsystem, sondern eine grundsätzlich andere Gesellschaft. Eine Notwendige Voraussetzung dafür ist die Aneignung der Produktionsmittel.
Ungleichbehandlung und Diskriminierung kann im Kapitalismus weder durch das Justizsystem noch durch Communities gut gelöst werden. Staatliche Strukturen sehen zwar grundsätzlich eine gegenseitige Kontrolle ihrer Instanzen vor, aber haben auf Grund ihrer nationalstaatlichen Ideologie klare Vorstellungen davon, wer dazugehört und wer demnach besonders schützenswert ist und wer nicht. Der Staat schafft somit eine Ungleichheit auf struktureller Ebene, die sich in Polizeigewalt und erniedrigenden Kontrollen zeigt. Communities versuchen mit sexualisierter Gewalt im eigenen Umfeld umzugehen, in dem sie mit Tätern individuelle Umgangsweisen aushandeln und faktisch keinerlei Handhabe gegen Verstöße oder erneute Gewaltausübung haben.


1
https://www.facebook.com/notes/conne-island/stellungnahme-des-conne-islands-zum-%C3%BCbergriff-beim-hgicht-konzert-am-27122019/10157468782605862/

2
Reportage der STRG_F Journalistin Patrizia Schlosser „Spannervideos: Wer film Frauen auf Toiletten?“ https://www.youtube.com/watch?v=nGldiXxljhQ

3
https://forum.fusion-festival.de/viewtopic.php?f=39&t=28956&sid=d09305027031f412932af24e828c1e4c

4
https://de.indymedia.org/node/71178

5
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-09/polizeigewalt-studie-ruhr-universitaet-bochum-betroffene-koerperverletzung-polizei/seite-3

Einspruch gegen die Stellungnahme des Bundesverbandes zu den Zeltlagern

Mit Erstaunen haben wir den Aufruf des Bundesverbandes unter der Überschrift „Raus aus der Isolation! Sommerzeltlager 2020 ermöglichen!“ wahrgenommen. Darin geht es v.a. darum, dass angesichts der Erlaubnis kommerzieller Reiseangebote auch Zeltlager in der Jugendverbandsarbeit ermöglicht werden sollen. Wir würden dem Bundesvorstand in der Einschätzung zustimmen, dass von den Lockerungen vor allem jene gesellschaftlichen Bereiche … Einspruch gegen die Stellungnahme des Bundesverbandes zu den Zeltlagern weiterlesen

Gewerkschaftliche Sprechstunde findet wieder statt!

Ab dem kommenden Dienstag (26. Mai) bietet die FAU Jena wieder ihre wöchentliche Sprechstunde an. Da die Coronakrise nach wie vor nicht vorbei ist denkt bitte daran eure Maske mitzubringen. Außerdem kann es dazu kommen, dass wir euch bei großen Andrang bitten müssen vor dem Lokal zu warten, da der Raum bei Einhaltung der Abstandsregelungen […]

Kundgebung und SoKü verschoben!

Liebe Freund*Innen,

schweren Herzens und in langer Diskussion haben wir uns dazu entschieden, die angekündigte Kundgebungs-SoKü zu VERSCHIEBEN. Es wäre schwierig, euch gleichzeitig einen trockenen Ort zum Essen zu bieten und die Abstandsregeln und das Hygienekonzept umzusetzen. Auch ist das Speisen nur außerhalb der Kundgebung möglich (wo es dann entsprechend keine Unterstellmöglichkeiten gäbe). Und der Wetterbericht sagt recht frische Temperaturen voraus.

Nichts desto trotz rufen wir zur Teilnahme an der auf dem Holzmarkt 14:30 beginnenden Demonstration zum Seebrückeaktionstag auf!

Wir sind noch in der Feinabstimmung und werden unsere Kundgebung voraussichtlich am ersten Juni-Wochenende nachholen. Dann hoffentlich im Trockenen und mit einer Kundgebung, die wir bis dahin mit mehr Inhalten füllen wollen. Meldet euch gerne unter , wenn ihr etwas dazu beitragen wollt. Das Thema wird auch dann noch aktuell sein.

Solidarische Grüße,
Black Kitchen

Thüringer Justizministerium verkündet Lockerungen – Gefangene beklagen weiterhin Missstände

Am 7. Mai 2020 hat das Thüringer Justizministerium die erfolgreiche Bewältigung der Coronakrise im Strafvollzug verkündet und die Lockerungen der Maßnahmen angekündigt. Gefangene aus der JVA Untermaßfeld hingegen haben vor einigen Tagen die anhaltenden Missstände und Einschränkungen beklagt: Es soll eine Stunde Besuch im Monat möglich sein. Man dürfe sich dabei nicht berühren und wer […]

Sokü zum Seebrücke Aktionstag am Samstag im Paradiespark

Liebe Leute,

lange Zeit gab es keine SoKüs in Jena, um Infektionen zu vermeiden. Nachdem jetzt aber die Gastronomie auch wieder geöffnet hat möchte die Black Kitchen mit euch gemeinsam eine SoKü im Paradiespark veranstalten.

Zum Aktionstag der Seebrücke am 23.5 ab 16:00 veranstalten wir eine Kundgebung unter dem Titel: „NoBorderKitchen – Evakuiert ALLE Lager – Leave no one behind“ im Paradiespark beim Froschkönigbrunnen mit Sokü aus der Gulaschkanone.

Wir suchen aktuell noch nach Menschen, die Redebeiträge halten möchten.

Da wir ein recht kompliziertes Hygienekonzept aufgestellt haben würden wir uns über Hilfe von euch sehr freuen. Wir brauchen einige Menschen, die helfen dieses Konzept zu kommunizieren. Bitte meldet euch doch unter post@blackkitchen.space.

Die Spenden der SoKü gehen an Organisationen die vor Ort den Menschen in den Lagern helfen.

Bitte bringt einen Mund-Nasen-Schutz mit (ihr müsst ihn nicht beim Essen tragen!).

solidarische Grüße
Black Kitchen

Unterstützung für den Streik der rumänischen Erntehelfer*innen in Bornheim

Am 15. Mai ist ein großer Teil von ca. 300 rumänischen Erntehelfer*innen auf dem Spargel- und Erdbeerhof von Ritter in Bornheim bei Bonn in einen Streik getreten. Die Hauptforderungen waren die Zahlung der ausstehenden Löhne und eine sichere Rückreise nach Rumänien. Die FAU Bonn hat mit den Arbeiter*innen Kontakt aufgenommen und unterstützt sie seitdem. Neben […]

Erste-Mai-Kundgebung vor der JVA Untermaßfeld macht Mut

Am 1. Mai 2020 hat vor der JVA Untermaßfeld bei Meiningen eine Kundgebung in Solidarität mit den dort inhaftierten Arbeitern und GG/BO-Mitgliedern stattgefunden. Der Anlass war, wie schon im Aufruf ausgeführt, ein doppelter: „Mit der Kundgebung wollen wir auf zwei Dinge aufmerksam machen. Erstens wollen wir zum Tag der Arbeiterklasse auf die Lage der Gefangenen […]

Randale und Neuinfektion in JVA Untermaßfeld

Am 25. April kam es in der JVA Untermaßfeld zu einem Vorfall, zu dem uns zwei Berichte vorliegen. Ein Gefangener randalierte wohl auf seiner Zelle. Mitgefangene bringen dies direkt mit der intransparenten Informationspolitik gegenüber den Häftlingen und indirekt mit den Folgen des Besuchsverbots in Verbindung. Zudem berichten Gefangene von einer weiteren bestätigten Neuinfektion in der […]

FAU unterstützt Erste-Mai-Kundgebungen in Thüringen

In der letzten Woche wurde in Thüringen die Versammlungsfreiheit gegen das pauschale Versammlungsverbot der Thüringer Corona-Verordnung durchgesetzt. Entsprechend können zum 1. Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse, Kundgebungen legal stattfinden. Mitglieder der FAU unterstützen mehrere dieser Kundgebungen durch Teilnahme oder Grußworte: Jena: 13:00–15:00 auf dem Holzmarkt Kundgebung des Frauen*streik-Bündnisses „Für einen feministischen 1. Mai“ (siehe facebook) […]

Versammlungsrecht: zur aktuellen Situation in Thüringen. Stand 29.04.2020

Durch den Druck von der Straße und der Gerichte hat die Thüringer Landesregierung eingelenkt, ihre aktuelle Corona-Verordnung geändert und das absolute Versammlungsverbot wenigstens etwas geöffnet. Dass die Landesregierung in diesem Zusammenhang davon spricht, „Versammlungen zu erlauben“1 zeigt etwas über ihre Haltung zum Versammlungsrecht. Denn tatsächlich ist es unser Recht auf die Straße zu gehen, dass [...]

Trotz oder gerade wegen der Coronakrise: Erste-Mai-Kundgebung vor der JVA Untermaßfeld

Zur Unterstützung der inhaftierten Arbeiter und Gewerkschafter in der thüringischen JVA Untermaßfeld wird die Soligruppe Jena der Gefangenen-Gewerkschaft am 1. Mai 2020 eine Kundgebung vor der JVA abhalten. Mit der Kundgebung wollen wir auf zwei Dinge aufmerksam machen. Erstens wollen wir zum Tag der Arbeiterklasse auf die Lage der Gefangenen hinweisen, die zu Hungerlöhnen, größtenteils […]

SGB II in SARS-Cov-2/ Covid-19-Zeiten

Wir gehen davon aus, dass euch wie uns der Nutzen von Händewaschen klar ist – und Virologie ist ja auch nicht unser Thema – daher gibt’s heute von uns, was man von uns erwarten kann: Infos über SGB II-Zeug.
Gleich vorweg: Wenn der verkürzte Leitfaden nicht genügt, meldet euch bei uns.

1. Wenn das Geld nicht reicht: SGB II a.k.a. „Hartz IV“

… ist dafür da, das minimale Überleben von Leuten zu sichern, die gerade zu wenig Einkommen haben, um Miete und Lebensmittel zu bezahlen.
Entsprechend kann das ein jeder beantragen (und sollte es zeitnah erhalten, nehmt mal 2 Wochen als Richtschnur), auf den das zutrifft, ganz egal, wie die Situation entstand. Es können Aufträge weggefallen sein, die Chefin kann einfach nicht zahlen, vielleicht fällt dein Minijob weg oder dein Arbeitslosengeld läuft aus oder dein sogenanntes Kurzarbeitergeld reicht schlicht für nichts.
Völlig egal.

2. Erster Antrag

Für den Antrag ist im Prinzip nicht mehr nötig, als dass du der Stadt Jena (als Trägerin des Jobcenters) im Laufe des 1. Monats der Geldnot mitteilt, dass du Geld brauchst und wofür, also den sogenannten Regelsatz, der Lebensmittel, Strom u.s.w. abdecken soll, und Miete (und wie hoch die ist). Der Anspruch, wann auch immer darüber entschieden wird, gilt dann rückwirkend zum 1. des Monats, in dem du das erklärt hast, einschließlich Miete und eventuellen Zusätzen.

Hinzu kommt nämlich im Einzelfall ein kleines Plus (Amtsdeutsch: Mehrbedarfe) für Alleinerziehende, Schwangere oder Leute, die krankheitsbedingt mehr Geld für Lebensmittel ausgeben müssen. Das musst du zusätzlich angeben.
Außerdem, wenig überraschend, musst du erklären, wie du das Geld willst (bar oder via Überweisung, in dem Fall dann auch eure Kontoverbindung) und, klar, eine Kontaktinformation, also deine Adresse.

Normalerweise wird auch geprüft, ob du nicht zu viel Vermögen herumliegen hast. Das geschieht für Anträge, die bis Ende Juni 2020 gestellt werden, für das erste halbe Jahr Bewilligungszeitraum nicht.

Das Jobcenter jenarbeit (für Leute, die in Jena leben) hat außerdem noch Listen mit Zeugs, das sie gern hätten und wie sie das gern hätten, im Internet veröffentlicht. Da könnte ihr euch z.B. das Antragsformblatt ausdrucken.
Ist aber nicht so wichtig. Wenn sie noch was von dir wollen, schreiben sie dir das schon. Wichtiger ist, dass du ihnen rechtzeitig Bescheid gibst, dass du überhaupt Geld brauchst.

4. Weiterbewilligungsantrag

Für Bewilligungszeiträume, die „vom 31. März 2020 bis vor dem 31. August 2020“ (§ 67 Abs. 5 SGB II) enden, musst du keinen neuen Weiterbewilligungsantrag stellen, der Zeitraum verlängert sich automatisch bis einschließlich August 2020.
Das heißt, du solltest etwa Ende Juni/ Anfang Juli dem Jobcenter erklären, dass du auch danach Geld brauchst, aber derzeit ist das kein Thema.

5. Postweg

Immer noch gelten Kontaktsperren und sind öffentliche Einrichtungen geschlossen. Das gilt auch für jenarbeit.
Auf der Internetseite jenarbeits wird empfohlen, Emails oder Briefe zu schreiben oder Faxe zu versenden. Abgesehen vom Fax sind das alles leider eher unsichere Wege. In der Vergangenheit sind da schon dumme Sachen passiert und Dinge weggekommen.
Will ja niemand.
Wenn du lieber ganz sicher sein willst, dass deine Unterlagen und Anträge auch ankommen: Nutze den Fristenbriefkasten der Stadt Jena. Der steht Am Anger 15 in Jena, hinter dem neueren Stadtverwaltungsgebäude am Lutherplatz.

Außerdem erzeugt der Zauberspruch „Ich bitte um eine Eingangsbestätigung“, irgendwo auf den Unterlagen oder im Anschreiben notiert, dazu, dass ihr ein abheftbares Feedback bekommt.

6. Zuschlag „digitales Lernen“ für Kinder

Die Bundesregierung/ GroKo hat entschieden, dass Schulkinder in armen Familien einen Zuschuss benötigen, um beim „digitalen Lernen“ nicht abgehängt zu werden, und dass dafür 150 Euro genügen.
Das sollte niemanden wundern, immerhin sind das die Leute, die für Kinder auch keinen eigenen Lernort in der Wohnung vorsehen und 23 bis 75 Cent im Monat für Bildung für ausreichend halten.
Das Geld soll über die Schulen ausgeschüttet werden und ist mit etwas Glück rechtzeitig da, wenn am 18. Mai in Thüringen die Abiturprüfungen beginnen.

Ja, man könnte sich aufregen, aber ehrlicherweise: Dann hat man die letzten 30 Jahre hier verpennt.

Keine Kurzarbeit für Erzieher*innen!

In Jena scheint die Stadtverwaltung die Coronakrise nutzen zu wollen, um auf Kosten der Erzieher*innen der Kitas in freier Trägerschaft Geld zu sparen. Sie habe den freien Trägern gegenüber angekündigt, dass sie ihnen aufgrund der Kita-Schließungen die Mitteln kürzen wolle. Die Erzieher*innen sollen dann stattdessen Kurzarbeitergeld erhalten, was einer Gehaltskürzung von bis zu 40% gleichkäme, […]

Wochen ohne Duschen und Hofgang, dafür mit infizierten Ärzten in der JVA Untermaßfeld

Ein Gefangener, der frisch von der Quarantäne-Station auf seine Station zurück entlassen wurde, berichtet davon, dass er in den zwei Wochen unter Quarantäne nicht duschen gehen durfte und auch keinen Hofgang hatte. Stattdessen gaben die Beamten ihnen die Seife in die Zelle. Diese drastischen Einschränken kommen zu den bereits bestehenden hinzu wie Besuchsverbot, Verlust der […]

Weitere Ärztin in der JVA Untermaßfeld corona-positiv

Mehrere Gefangene aus der JVA Untermaßfeld haben erfahren, dass die Ärztin, die am 14. April in der JVA gewesen ist, positiv auf das Virus getestet worden. Dies ist eine weitere Etappe in der eskalierenden Coronakrise im Thüringer Strafvollzug. Zuvor war der Anstaltsarzt erkrankt und sind mindestens drei Häfltinge und ein Beamter positiv getestet worden. Gleichzeitig […]