Sitzstreik in der JVA Untermaßfeld – mit „Bunker“ und Kompletteinschluss bestraft
Drastische Einschränkung der Prüfungsberatung an der FSU Jena
Knastprofiteur vorgestellt: GERDES
JVA-Beamte in JVA Chemnitz wollte medizinische Behandlung einer Gefangenen verhindern
Sommerpause
GG/BO-ler kritisieren: JVA Rosdorf übervoll
GG/BO in JVA Untermaßfeld bleibt am Ball
Frist ist Frust – Bildungssektion der FAU Jena unterstützt Entfristungskampagne
Exkursion aus Jena zur Bakuninhütte bei Meiningen am 22. Juni 2019
Fünf Jahre Gefangenen-Gewerkschaft! Eine ausführliche Bilanz.
Spendensammlung für neues autonomes Zentrum im rumänischen Bukarest
Thüringer Gefangene fordern Abschaffung des Freiheitsentzugs für Geldstrafen und Schulden
70 Jahre Grundgesetz – 70 Jahre Zwangsarbeit für Gefangene
Lirabelle #19
Liebe Leser*innen,
nachdem die letzte Ausgabe ohne die eigentlich immer am Anfang stehenden News erschien, haben wir dies in der aktuellen Ausgabe aufgeholt. Wir werfen auf den ersten fünf Seiten wieder schlaglichtartig einen Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen in Thüringen. Mit einem Bericht über die Erinnerung an das besetzte Haus in Erfurt wagen wir im darauf folgend Artikel einen Blick zurück. Im April dieses Jahr jährt sich um zehnten Mal die Räumung des besetzten Hauses. So erzählt der Bericht auch eine Geschichte der Vergänglichkeit, welche – ohne dass dies vorher intendiert gewesen wäre – zu einem präsentem Thema der aktuellen Ausgabe geworden ist. Im Dezember 2018 verstarb der in der Lirabelle oft erwähnte Wolfgang Pohrt. Das Bild auf Seite 18 zeigt ihn im Gespräch mit Joachim Bruhn. Die Nachricht seines Todes erreichte uns beim zusammenstellen der letzten Texte. Ein weiterer Artikel der Ausgabe handelt vom Tod, genauer: vom Nazimord an Hartmut Balzke, und schlägt als Appell zur Erinnerung als Kritik einen Bogen zur Gegenwart. Zu dieser gilt es sich von vorne nach hinten durchzuarbeiten, denn die Auseinandersetzungen mit aktueller politischer Praxis stehen diesmal eher am Ende des Heftes. Letztlich wollen wir mit den Aluhutchroniken zum Zwecke der Reflektion auch in der Form der Auseinandersetzung eine Distanz zu mal mehr mal weniger ernstzunehmenden Dummheiten und vorangegangenen bedrückenden Ereignissen einnehmen. Ganz in diesem Sinne schließen wir das Editorial mit einem Werbeblock:
der Antifa e.V. ist bald pleite, Fördermittel kriegen wir nicht und mit Kartoffeldruck dauern Ausgaben so wahnsinnig lange. Grund genug für uns, über neue Geldquellen nachzudenken. Angeregt von den neuen Ausgabe der Chroniken verkauft die Lirabelle-Redaktion jetzt abgeschnittene Fußnägel mit garantiertem Radikalisierungs-Effekt! Die Nägel sind handgeschnitten, liebevoll verpackt und voller Demo- und Plenums-Erfahrung. Preis ist Verhandlungssache. Deradikalisierungs- und Anti-Extremismus-Projekte, die die Wirksamkeit ihrer pädagogischen Beschwörungen ausprobieren wollen, erhalten Mengenrabatt. Mehr dazu und zu anderen Themen gibt’s im Heft.
Die Redaktion der Lirabelle 19
p.s.: Das Titelbild ist gemacht und zur Vefügung gestelt von Lionel C. Bendtner. Es zeigt die Demo „Die Wartburgstadt ins Wanken bringen“ in Eisenach am 16.03.2019.
- News
- Vorwärt immer – Rückwärts nimmer
Vor zehn Jahren wurde das besetzte Topf & Söhne Gelände geräumt. Marvin lebte mehrere Jahre im Topf-Squat und schrieb uns seine Erinnerungen. - Allein im Kampf gegen Umgänglichkeit
Am 21. Dezember 2018 starb Wolfgang Pohrt. Mit Pohrt ging einer der wichtigsten Theoretiker der antideutschen Linken, ein Ideologiekritiker, der sich niemals in den Dienst irgendwelcher Bewegungen stellte, sondern sich bis zuletzt als linker Intellektueller nur einer Sache verpflichtet fühlte, der Wahrheit über diese Gesellschaft. Ein Nachruf von Ox Y. Moron. - Hartmut Balzke – Opfer rechter Gewalt
Wenn überhaupt darüber gesprochen wurde, dann nur ungern und unter vorgehaltener Hand. Der sogenannte Triftstraßen-Mord oder Punker-Mord war lange Zeit eine nicht greifbare Erzählung. Die nun in diesem Jahr zur Erinnerung an den Mord an Hartmut Balzke stattfindende Veranstaltung von ezra (Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen) brachte Aufklärung. Doch warum bekam dieser rechte Mord keine Öffentlichkeit – nicht mal in den engen subkulturellen und linksradikalen Zusammenhängen? Es herrscht ein Schweigen, das durchbrochen werden muss. Wie das zu schaffen ist, müssen sich viele fragen lassen. Eins steht fest, wir dürfen nicht vergessen. Einer von uns wurde schwer verletzt, einer von uns ist tot. Ein Bericht von Eva. - Politische Wechseljahre: Gedanken zur Einsamkeit in der Radikalität
Mit einer Art ungewolltem Moral-Appell versucht Jens Störfried auf seine Situation aufmerksam zu machen. Beschrieben werden dabei Gedanken, Wahrnehmungen, vielleicht auch „nur“ Gefühle, die ihn offenbar in einer ausgedehnten Umbruchphase beschäftigen. Der Beitrag ist auch ein Weiterdenken von einigen Aspekten der Diskussion „Dem Morgenrot entgegen?“ in der letzten Lirabelle. - Emanzipation im Neumond? Drei Perspektiven auf Hexen und Hexentum
Hexen sind Pop und cool, und häufig genug auf Bezugspunkt feministischer Identität. Grund genug für die Redaktion der Rost und Motten sich in einem Gastbeitrag aus feministischer und kommunistischer Perspektive mit der Bezugnahme auf Hexerei auseinanderzusetzen. Dabei blicken verschiedene Mitglieder der Redaktion auf Hexerei als irrationalen Rückschritt und Entsolidarisierung mit den Opfern der Hexenverfolgung, als Fokuspunkt um das Verdrängte zu seinem Recht und seiner revolutionären Kraft kommen zu lassen und als Form der Emanzipation von bloß instrumenteller Vernunft. - Kritik aktueller anarchistischer Praxis in Jena. Teil I
Als Hotspot linksradikaler Politik in Thüringen birgt die anarchistische Szene Jenas auch kritikwürdige Aspekte. Minna Takver widmet sich in zwei Teilen der anarchistischen Strategie und ihrer Auswirkungen. Dieser erste Teil beleuchtet Anthropologie und Aktionen, der zweite Teil Identifikation und Geschichtskonstruktion. Die Autorin ist Mitglied im Club Communism. - Einblicke in deutsche Verhältnisse – Eine Rezension
Über ‘68, die Rote Armee Fraktion als eine ihrer Folgen und Ulrike Meinhof als zentrale Akteurin wurde viel geschrieben, doch gute Lektüre dazu zu finden, ist nicht leicht. Dori empfiehlt Peter Brückners ‚Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse‘. - „Der ist eigentlich ganz nett…“
Elvira Sanolas darüber, dass Frauen häufig Teil des Problems sind, wenn es gegen Macker geht. - Repressionsschnipsel
- Die Aluhut-Chroniken XIV – „Es gibt kein Unheilbar“
»Es gibt kein Unheilbar«
Lehre abgebrochen, keine Lust auf den Arbeitsmarkt? Eine profitable Lösung für dieses Dilemma hat Bruno Gröning gefunden: In den 1950er-Jahren hat der charismatische Mann mit dem strengen Blick den Beruf des Wunderheilers ergriffen. Seine Story: Er wurde von Gott gesandt, um mit seinen Geistheilungskräften die Welt und die Menschen zu heilen. Befeuert von überzeugten Anhänger_innen und einer begeisterten Boulevardpresse wurde er schnell zu einem der bekanntesten Esoterikern in Westdeutschland. Das profitable Geschäft mit der Krankheit wurde noch profitabler, indem alle Einnahmen zu Spenden erklärt wurden und in informelle Kassen wanderten. Um seiner Quacksalberei eine rechtliche Grundlage zu geben, beantragte Gröning 1953 die Zulassung als Heilpraktiker und scheiterte. Trotzdem betete er weiter Menschen gesund – in Massenversammlungen und Einzelgesprächen. Zudem konnte man per Post seine abgeschnittenen Fußnägel, eingerollt in Stanniolkügelchen, kaufen. Wenig später, 1959, verstarb Bruno Gröning – ein kräftiger Dämpfer für den Glauben an seine Heilkräfte. Aber ein erprobtes Geschäftsmodell gibt man nicht leichtfertig auf und Fußnägel wachsen ja angeblich nach dem Tod weiter. Daher führte der »Verein zur Förderung seelisch-geistiger und natürlicher Lebensgrundlage« sein Werk fort. Nach einigen Spaltungen und Streit unter den Erben ist der größte Nachlassverwalter der Zehnägel heute der Bruno-Gröning-Freundeskreis mit angeblich über 12.000 Mitgliedern in der BRD – doppelt so viele wie Scientology. Der Freundeskreis bedient sich der üblichen Mittel esoterischer Heilsbringer_innen: er ist in lokalen Gruppen organisiert, mit Film- und Diskussionsveranstaltungen wird um Anhänger_innen geworben, den Überzeugten empfohlen, sich von kritischen Familienangehörigen und Freund_innen abzuwenden. Wie üblich gibt es (mindestens) 6000 Mediziner, die auch an die Wunderkräfte der Zehnägel glauben. Wie finanzkräftig der Freundeskreis ist, zeigt ein 2018 entstandenes, professionell gemachtes dreiteiliges Doku-Drama. Wie flächendeckend die Freundeskreise aktiv sind, sieht man daran, dass in vielen Städten und Regionen – auch in Erfurt – einer existiert. Und wie unkritisch die Öffentlichkeit auch heute noch an Wunderheiler glaubt, sieht man daran, dass die Lokalpresse, ganz wie die Bouldvardpresse in den 1950er-Jahren, alles nachplappert, was Quacksalber verkaufen: »Es gibt kein Unheilbar«, so der Titel einer Meldung im »Anzeiger«, dem kostenlose Werbeblättchen der Funke-Mediengruppe Thüringen. Die darin beworbene Veranstaltung fällt allerdings aus: Die Offene Arbeit Erfurt hat den Abend abgesagt, nachdem klar wurde, wem man den Raum zugesagt hatte.
Repressionsschnipsel
Erfurt: Deine Omi PMK-links? Thüringer VS sammelt eifrig Daten
Bei einer Befragung einer Mitarbeiterin des Thüringer Verfassungsschutzes, die im Bereich Auswertung Rechtsextremismus bis 2008 tätig war, im Untersuchungsausschuss zu Rechtsextremismus und Behördenhandel am 7. Februar wurde offenbar, dass bis 2008 die Thüringer Polizei regelmäßig Daten an den VS weitergab. Betroffen sind alle, die an einer als „extremistisch“ eingeschätzten Versammlung teilnahmen und deren Daten in irgendeiner Weise erfasst worden. Dazu zählen: Personalienfeststellungen (auch von Ordner*innen), Observationen, ausgewertetes Bildmaterial, Anmeldungen, Kooperationsgespräche. Was als „extremistisch“ eingeschätzt wird, liegt bei der Hufeisenmodell-orientierten Polizei. Dafür dass sich dieses Vorgehen seit 2008 geändert haben könnte, gibt es bisher keine Anhaltspunkte. Verfassungsschutz? Abschaffen!
Erfurt: Wer hat die Bullenkarren 2013 angezündet?
Im Oktober 2018 geht ein struktureller Angriff auf die linken Szene in Erfurt zu Ende. Ein bereits inhaftierter Mann aus dem Umfeld der Thüringer NPD gesteht, dass er im September 2013 15 nagelneue Einsatzwagen der Polizei angezündet hat. Die 40-köpfige LKA-Ermittlergruppe konnte bis dahin keine Ergebnisse auf der Suche nach den Täter*innen liefern. Ermittelt wurde auf vielfältige Art und Weise in der linken Szene. Befragungen fanden u.a. aufgrund von Äußerungen in Sozialen Medien statt. Genoss*innen wurden an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht und befragt. Bester Umgang damit? Klappe halten, Strukturen schützen und die Rote Hilfe informieren!
Erfurt: Antifaschismus ist keine menschenverachtende Einstellung!
Im Oktober werden zwei Antifaschisten vor dem Amtsgericht Erfurt verurteilt, weil sie einen stadtbekannten Nazi im Kontext einer Demonstration von Die Rechte am 1. Juli 2017 vermöbelt haben sollen. Die vorsitzende Richterin wendete zur Strafverschärfung den §46 Abs. 2 StGB an, der eigentlich fremdenfeindliche und rassistische Tatmotivationen aufgreift. Herausgekommen sind Bewährungs- und Geldstrafen. Solidarität jetzt! Spenden an die RH Erfurt unter dem Stichwort „Oktober 2018“.
Gera: Mit Schädelmessung gegen Antifaschisten
Vor dem Amtsgericht Gera wird im Oktober 2018 eine Verhandlung gegen einen Angeklagten fortgesetzt, dem vorgeworfen wird, sich im Zuge von Gegenprotesten bei einem III-Weg-Aufmarsch am 1. Mai 2017 in Gera vermummt zu haben. Während die Hauptverhandlung ausgesetzt war, sollte auf Bestreben des Geraer Staatsanwaltes Zschächner ein anthropologisches Gutachten des Angeklagten erstellt werden. Das Gutachten der Sachverständigen, die erklärte in ihrer gesamten beruflichen Laufbahn noch nie ein Gutachten in einer Vermummungssache erstellt zu haben, konnte eine Übereinstimmung des Angeklagten mit einer vermummten Person auf dem als Beweis angeführtem Video ausschließen. Das Verfahren endet mit einem Freispruch für den Angeklagten.
Rudolstadt / Saalfeld: „United we stand“ – Hauptverhandlung gegen Antifaschisten ausgesetzt
Die Verhandlung im November 2018 am Amtsgericht Rudolstadt gegen einen Antifaschisten aus Saalfeld, der der Körperverletzung an einem Nazi im Zuge von Gegenprotesten gegen einen Thügida-Aufmarsch im Januar 2017 beschuldigt wird, endet nach einer Stunde, da der Richter dem Antrag der Verteidigung auf Aussetzung der Hauptverhandlung wegen der Unvollständigket der Akte stattgibt. Auch der Folgetermin wird abgesagt. Mittlerweile sind neue Prozesstermine anberaumt: Donnerstag, 11.04.2019, Montag, 29.04.2019 und Donnerstag, 16.05.2019, jeweils 9:30 Uhr am Amtsgericht Rudolstadt.
Gotha: „Free the three“ – Tendenziöser Schöffe
Nachdem die Verhandlung im Frühjahr 2018 wegen Krankheit der Richterin nicht fortgeführt werden konnte, sind nach einem dreiviertel Jahr neue Verhandlungstermine im Fall „Free the three“ anberaumt. Am 15. Januar 2019 beginnt der Prozess damit erneut, ein drittes Mal wird die Anklageschrift verlesen. Zwei neue Schöffe werden vereidigt. Einer von ihnen teilte über sein Facebookprofil Nazibilder, was die Verteidigung veranlasst, einen Antrag auf Befangenheit zu stellen. Die Entscheidung darüber steht vor dem zweiten Verhandlungstag noch aus, sodass dieser abgesagt wird. Keine Woche später werden auch alle folgend geplanten Termine abgesagt. Der Prozess muss zu noch unbestimmter Zeit erneut beginnen.
„Der ist eigentlich ganz nett…“
Elvira Sanolas darüber, dass Frauen häufig Teil des Problems sind, wenn es gegen Macker geht.
Jede aufgeweckte Frau kennt das Problem. Immer wieder kommt es zu Situationen, wo einer angesichts bestimmter männlicher Verhaltensweisen mal die Hutschnur platzt. Sei es das Bedrängen und Anfassen, das penetrante Verbessern, das ungefragte Erklären. So einige Würstchen haben es offensichtlich und regelmäßig verdammt nötig, sich ständig auf Kosten ihres weiblichen Gegenübers eine Portion Selbstbewusstsein zu verabreichen. Irgendwann kann frau einfach nicht mehr – und „rastet aus“. Heißt: Merkt eigentlich nur etwas bestimmter an, dass es langsam zu viel wird.
Häufig frage ich mich, wieso Frauen das eigentlich nicht viel öfter tun, wieso auch ich nicht häufiger durchgreife. Stattdessen lasse ich Unliebsames geschehen und ärgere mich hinterher darüber, nichts getan zu haben und so manchen Trottel habe unbedarft weitermachen lassen. Damit bin ich nicht alleine, meinen Freundinnen und Genossinnen geht es ebenso.
Dabei wäre das Problem nur halb so groß, wenn Frauen solidarisch miteinander wären. Denn tatsächlich bekommt man in den seltenen Fällen, in denen man doch einmal deutlich sein Unbehagen verbalisiert, es mit „Der-Freundin-von“ zu tun. „Die-Freundin-von“ meint es gut, will die Wogen glätten und schlichten. Sie mag die schlechte Stimmung nicht. Vor allem aber tut ihr ihr Freund oder Bekannter leid, der angesichts der direkten Ansage (aber er ist doch Feminist!!) verdattert bis völlig zerstört ist. Schuld an dem Szenario ist natürlich: die Frau, hat sie doch die aggressive Aufladung der Situation zu verantworten.
Egal, wie kacke sich der Typ benommen hat – „die-Freundin-von“ hat immer Verständnis. „Er meinte es nicht so, ich kenne ihn,“ und: „Der ist eigentlich voll nett!“ Lieber sollte sich die Frau in gewaltloser Kommunikation schulen, „mal nachfragen“ statt was zu sagen. Und sowieso war alles ganz anders: „Ich kann mir das nicht vorstellen, dass er das gemacht/gesagt hat.“ Der Typ, dem es (pädagogisch betrachtet) eigentlich mal ganz gutgetan hätte, seine Grenzen aufgezeigt zu bekommen, kann dann dabei zuschauen, wie der Grund unter dem Boden seiner Kritikerin nachgibt. Die Stimmung kippt, plötzlich steht sie alleine da. Der Typ muss währenddessen meist überhaupt nichts mehr sagen und nur dasitzen und traurig gucken, sein Kampf wird schließlich ohne ihn ausgefochten. Diese Haltung erhöht außerdem den Opferstatus, von dem er zehrt.
Zusammengefasst heißt die bittere Wahrheit: Andere Frauen sind einer der Gründe, wieso man sich nicht wehrt, wieso so wenige Frauen sich verteidigen. Das klingt zunächst paradox, ist aber so. Die eigene, weibliche Aggression ist derart tabuisiert (nichts, was nicht mit einem Lächeln präsentiert wird, darf den Frauenmund verlassen), dass man lieber diejenige zum Schweigen bringt, die sie äußert, als sie in actu zu erleben.
Dazu kommt aber etwas Weiteres. Ich glaube, die „Freundinnen-von“ fühlen sich in solchen Situationen – endlich – mächtig, endlich sprachfähig. Sie können für ihren Freund einspringen, die Lage klären, für ihn aggressiv sein (denn nichts anderes sind sie), ihn beschützen. Sie können endlich mal die Situation umdrehen und den Macker spielen. Dass sie damit Macker schützen, ist ihnen nicht bewusst. Besonders pervers ist die Situation dann, wenn „die-Freundin-von“ auch noch Feministin ist.
Die Kritikerin hat es damit doppelt schwer, es drohen Anerkennungsverlust und Ausschluss, zusätzlich zur anstrengenden Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem, dem Sexisten. Daher, liebe Geschlechtsgenossinnen, eine Bitte: Wenn ihr nichts gegen euren Freund oder Bekannten sagen möchtet, aus welchem Grund auch immer, lasst es bleiben. Aber lehnt euch doch wenigstens zurück und lasst ihn selbst den Konflikt ausbaden, anstatt euch an der Frau abzuarbeiten, die sich wehrt.
Einblicke in deutsche Verhältnisse – Eine Rezension
Über ‘68, die Rote Armee Fraktion als eine ihrer Folgen und Ulrike Meinhof als zentrale Akteurin wurde viel geschrieben, doch gute Lektüre dazu zu finden, ist nicht leicht. Dori empfiehlt Peter Brückners ‚Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse‘.
Im Jahr 2018 blickte die deutsche Linke auf 50 Jahre ‘68 zurück. ‘68 steht dabei als Chiffre für eine Vielzahl von Entwicklungen, die sich um die Sudierendenproteste dieser Zeit zentrieren und einen Höhepunkt vorangegangener Entwicklung darstellen, sowie sie den Ausgangspunkt für weitere markieren. Während die Auseinandersetzungen dazu vielfältig sind, scheint das sprechen darüber, dass die 60er Jahre auch eine terroristische Variante hervorgebracht haben, etwas schwieriger. Die wohl bekannteste dieser Terrorgruppen war die Rote Armee Fraktion (RAF), eine ihrer zentralen Akteurinnen Ulrike Meinhof.
Meinhof war Journalistin, bevor sie sich 1970 an der Befreiung Andreas Baaders aus dem Knast beteiligte und zusammen mit ihm und anderen in den Untergrund abtauchte. Dies gilt als Geburtsstunde der RAF, als deren Teil sie bis zu ihrer Verhaftung 1972 an mehreren Anschlägen beteiligt war. Will man etwas über ihre Person oder die RAF erfahren, gibt es mittlerweile eine große Auswahl an Publikationen zu diesem Thema. Noch in den 70er Jahren musste jede den Vorwurf der Sympathie und Unterstützung der terroristischen Taten der RAF fürchten, der sich nicht systemkonform dazu äußerte. Zehn Jahre währte das daraus resultierende Schweigen, bis Stefan Aust mit dem Buch ‚Der Baader-Meinhof-Komplex‘ das auch heute noch bekannteste Werk zur RAF verfasste. Damit legte er einen „leicht verdaulichen Abenteuerroman und spannenden Krimi“, vor, so das scharfsinnige Urteil Klaus Bittermanns, der die Ereignisse der damaligen Zeit zum „abendfüllenden Unterhaltungsgegenstand“ machte; „[w]as die Leser nämlich an dem Buch so fasziniert, sind die engen Samthosen Baaders, mit denen er in einem palästinensischen Ausbildungslager rumrobbte.“ Ein weiteres, einige Jahrzehnte später erschienenes Buch dazu, das sich breiter Beliebtheit erfreute, war die Biografie Ulrike Meinhofs von Jutta Ditfurth, welche Joachim Bruhn bei der Vorstellung seines Buches ‚Rote Armee Fiktion‘ treffend als Kolportage, als Terror-Soap bezeichnete, die noch hinter das Niveau bürgerlicher Geschichtswissenschaft zurückfalle. Auch die zahlreiche Lektüre von Bettina Röhl – einer der beiden Töchter Meinhofs – sollte man sich besser ersparen, möchte man nicht in das Geschichtsbild einer Frau eintauchen, die Feminismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Die Möglichkeiten, sich dem Thema zu nähern sind also schlecht und zahlreich.
Einen anderen als oben genannten Zugang zum Thema wählt Peter Brückner in seinem Buch ‚Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse‘. Mit dem kurz nach Meinhofs Tod veröffentlichten Buch verfasste er keine Biografie Meinhofs, keinen Abenteuerroman über die RAF, sondern – so Ulrich K. Preuß im Vorwort des Buches – „ein[en] Essay darüber wie Ulrike Meinhof in den deutschen Verhältnissen umkam.“ Vom Verlag eigentlich als Zusammenstellung zentraler Texte Meinhofs mit einem Vorwort Brückners angefragt, fungieren die Texte von Meinhof eher als Leitfaden, die, politisch kontextualisiert, ein Bild jener Verhältnisse zeichnen, die die Journalistin schließlich dazu bewegten, in die Illegalität abzutauchen, um den bewaffneten Kampf zu führen. Dies als einer ihrer Umbrüche in ihrem Leben gefasst, hält Brückner fest: „Diese Umbrüche bildeten sich heraus in der Auseinandersetzung mit dem ‚Klassenfeind‘: sie resultieren aus jahrelangem Handgemenge, aus Versuch und Irrtum … Darum wird die Hinwendung zur Biografie eines Menschen aus dem Lager der ‚Historischen Alternative‘ immer etwas dezentrierendes haben müssen.“ So wurde aus dem Buch eine Beschreibung der deutschen Verhältnisse der damaligen Zeit.
Anhand einer Vielzahl von Quellen beschreibt der Autor dabei die innenpolitische Lage der BRD. So hat es bereits in den 50er Jahren eine einsetzende Gleichsetzungstendenz der öffentlichen Meinung gegeben, die sich zur Zeit der großen Koalition in Entpolitisierung artikulierte; und zwar durch
„[d]ie Verdrängung politischer Sachdiskurse zugunsten von Personalfragen (‚neue Köpfe‘), die Unterordnung politischer Meinungsverschiedenheiten unter ein alle Personen ergreifendes Ziel.“
Meinhof,konkret 1966
Aufgezeigt wird eine Verschärfung der innenpolitischen Lage: die Diskussion und Verabschiedung der Notstandsgesetze, der Ausbau des Apparates der inneren Sicherheit und verschärfter Repression gegen Randgruppen und Widerständler; stets begleitet vom Dogma des Antikommunismus, einhergehend mit der Remilitarisierung der BRD: Beitritt zur NATO, Einführung der Wehrpflicht und Bestreben der atomaren Rüstung. Die Neue Restauration mit offener Gewalt, von der der Mord an Benno Ohnesorg den traurigen Höhepunkt darstellt, veranlasste die Linke schließlich dazu, die Verhältnisse der BRD unter Faschismusverdacht zu stellen. Brückner weist dies begründet zurück, hält aber ebenso fest: „Ein Faschismusverdacht entsteht selten ohne Grund. Es ist nützlich, sich wenigstens an einige der Anlässe zu erinnern“. Indem er eben dies tut, vermittelt er einen lebhaften Eindruck der damaligen Situation, der ein Großteil der Linken und auch Ulrike Meinhof, ohnmächtig gegenüber standen. Sie hält fest,
„… daß gegen die Repression, mit der wir es hier zu tun haben, Empörung keine Waffe ist. Sie ist stumpf und so hohl. Wer wirklich empört ist, also betroffen und mobilisiert ist, schreit nicht, sondern überlegt sich, was man machen kann.“
Meinhof, letzte Texte
Ohnmacht kennzeichnete dabei auch die Konfrontation mit den Berichten des Grauens in Vietnam.
Die Frage des ‚Was tun?‘ trieb u.a. die Akteurinnen und Teilnehmer des Vietnamkongresses 1968 in Westberlin um. Die im Buch in Teilen dokumentierte Schlusserklärung des Kongresses fordert auf zur Bildung „eine[r] zweite[n] revolutionäre[n] Front gegen den Imperialismus in dessen Metropolen“. Hier setzt sich – auch das wird mit Quellen aufgezeigt – ein Verständnis der internationalen Lage durch, vor dem u.a. Rudi Dutschke auf dem Kongress gewarnt hatte, nämlich die „abstrakte Negation verschiedener Widerspruchsebenen“, die Verwischung der Unterschiede der Situation in der BRD zu Vietnam zugunsten der Einsicht der Einheit in der Unterdrückung durch Kapitalismus und Imperialismus.
Sowohl im Faschismusverdacht als auch im Urteil Vietnam sei überall, zeigt Brückner eine Abstraktion von konkreten historischen und politischen Bedingungen in der politischen Analyse der Linken und Meinhofs auf. Die Kritik, die diese Bedingungen zum Gegenstand machen sollte, wird dadurch exterritorial, ist den Bedingungen des täglichen Lebens enthoben; sie wird abstrakt, die an ihr orientierte Praxis idealistisch.
Nun hat die RAF die Situation in der BRD nicht fälschlich als revolutionär eingeschätzt, vielmehr wollte sie durch ihr Agieren eben jene revolutionäre Situation herbeiführen.
„Das praktische revolutionäre Beispiel ist der einzige Weg zur Revolutionierung der Massen, die eine geschichtliche Chance zur Verwirklichung des Sozialismus beinhaltet …. Wir müssen also einen Angriff unternehmen, um das revolutionäre Bewußtsein der Massen zu erwecken.“
RAF, 1971
Von totaler Entfremdung umgeben, sei die revolutionäre Bewegung dabei zeit- und ortlos. Sie könne an nichts innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft anknüpfen und müsse sich selbst hervorbringen. Die Selbstkonstruktion sei nicht nur Entstehungsbedingung der revolutionären Bewegung, sondern auch der Akteure als Revolutionärinnen in ihr, die die Komplizenschaft mit dem System nur durch den totalen Bruch mit ihm aufkündigen könnten.
„Wer begriffen hat, was in Vietnam los ist, fängt allmählich an, mit zusammengebissenen Zähnen und einem schlechten Gewissen herumzulaufen; fängt an zu begreifen, daß die eigene Ohnmacht diesen Krieg zu stoppen, zur Komplizenschaft wird mit denen, die ihn führen“.
Meinhof, konkret 1967
So gelangt Brückner letztlich zu dem Schluss: „Die Abstraktionen Ulrike M. Meinhofs enthalten zutreffende Beobachtungen, Ergebnisse einer schmerzhaften Selbstanalyse, richtige Schlußfolgerungen und Theoreme, aber die Weise, wie die Autorin sie zusammenrafft und interpretiert, ein wahrer ‚Amoklauf an Abstraktionen, Analogien, Verkürzungen und Extrapolationen‘, mach sie falsch.“ Ob nicht tatsächlich etwas Falsches schon in der Beobachtung liegt, lässt sich aus den nur fragmentarisch wiedergegebenen Texten schwer nachvollziehen. Damit bleiben auch eventuelle Widersprüche in der Interpretation Meinhofs durch Brückner unaufdeckbar. Es lohnt insofern ihre Texte als Korrektiv heranzuziehen, und auch auf politische Inhalte zu befragen, denn diese bleiben im Werk unbeleuchtet. Dass es dem Autor nicht darum geht, die politische Ausrichtung der RAF zu thematisieren, sondern die deutschen Verhältnisse, die Meinhofs Entscheidungen beeinflussen, mag über diesen blinden Fleck hinwegsehen lassen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die sich aufdrängende Frage nach dem Antisemitismus der RAF ungestellt bleibt. Wenn Brückner gegen Ende des Buches nicht nur Parallelen im Motiv der Ort- und Zeitlosigkeit zu palästinensischen Terrorgruppen zieht, sondern deren Agieren damit erklärt, legt er dahingehend allerdings eine andere Antwort nahe – nämlich diesen nicht wahrzunehmen oder gar als handlungsanleitend zu begreifen.
Das Buch ist damit nicht dazu geeignet, sich ein Bild der politischen Orientierung der RAF zu verschaffen, ebenso wenig wird man Einblicke in den persönlichen Werdegang Meinhofs erhalten. Es bleibt (nur) das, was es beansprucht zu sein: die Darstellung deutscher Verhältnisse, unter denen Ulrike Meinhof wirkte. Doch gerade als das ist es eine gelungene Zusammenstellung und Kontextualisierung von Zeitdokumenten, die die politische Lage der 50er und 60er Jahre anschaulich vermitteln und so eine gute Möglichkeit, sich dem Thema RAF und Ulrike Meinhof zu nähern.
Emanzipation im Neumond? Drei Perspektiven auf Hexen und Hexentum
Hexen sind Pop und cool, und häufig genug auf Bezugspunkt feministischer Identität. Grund genug für die Redaktion der Rost und Motten sich in einem Gastbeitrag aus feministischer und kommunistischer Perspektive mit der Bezugnahme auf Hexerei auseinanderzusetzen. Dabei blicken verschiedene Mitglieder der Redaktion auf Hexerei als irrationalen Rückschritt und Entsolidarisierung mit den Opfern der Hexenverfolgung, als Fokuspunkt um das Verdrängte zu seinem Recht und seiner revolutionären Kraft kommen zu lassen und als Form der Emanzipation von bloß instrumenteller Vernunft.
We are the daughters of the witches that you couldn’t burn (von ⚷)
Auf Instagram wird aktuell unter dem hashtag #WirsindWICCA mobilisiert, zu zeigen „wie echte Schwesternschaft aussieht“. Gesäumt von Spinnen-, Kristallkugel- und Fledermaus-Emojis prangt darüber in großen Lettern der Slogan We are the daughters of the witches that you couldn’t burn. Was hier als Werbespruch für eine neue Netflix-Produktion dient, ist eine Parole, die ursprünglich aus dem lateinamerikanischen Feminismus stammt (dort: „Somos las nietas de las brujas que no pudieron quemar“ – „Wir sind die Enkelinnen…“). Was ich damit anfangen kann, ist: Ihr habt nicht alle erwischt und wir sind der lebende Beweis, dass das, was da ausgelöscht werden sollte, noch da ist. Denn für mich ist eben das, was die Hexenverfolgung zu vernichten versuchte das Weibliche, das der Entfaltung instrumenteller Vernunft entgegenstand, jahrhundertealtes Frauenwissen, die Macht reproduktiver Selbstbestimmung.
Womit ich weniger anfangen kann, ist ein neuer (Pop-)Feminismus, der weg von der Figur der Hexe, die für etwas steht, magische und spirituelle Praktiken wiederaufleben lässt. Das socialmediawirksame Verräuchern von Kräutern lasse ich als Privatmarotte durchgehen, das öffentliche Verfluchen von Trump empfinde ich als rein lächerlich und wo es in handfeste Esoterik und Naturheilkunde umkippt, wird es falsch und gefährlich.
Dass ich als Mensch in dieser Gesellschaft Spiritualität zugunsten männlicher Rationalität ablehne, ist Ausdruck eines Falschen und Resultat von westlicher Aufklärung, die auf jener Verfolgung und Ermordung von ‚Hexen‘ basiert. Dass ich als Kommunistin und Feministin gegen esoterische Ideologien bin, wird nicht davon abgelöst sein, ist aber meine materialistische Überzeugung, die es nicht zulässt, an magische Kräfte und übernatürliche Phänomene zu glauben.
Mit den Opfern und gegen die Täter zu stehen, ist ein richtiger Grundsatz. Ob es das Verfolgte schon immer zu verteidigen gilt, ist schon eine andere Frage. Wobei es natürlich gilt, in diesem Fall das Weibliche gegen das hegemonial-männliche hochzuhalten.
In meinem Verständnis gab und gibt es keine Hexen, so wenig wie es Hexerei gibt, einzig Frauen, die als solche beschuldigt und undenkbar grausam verfolgt und hingerichtet wurden. Mir widerstrebt es daher, die unrechte Anklage ihrer Peiniger zu akzeptieren und anzunehmen. (So sprechen wir doch auch nie von Asozialen, die von den Nationalsozialisten getötet wurden.) Deutlich sinnvoller erscheint mir die Strategie, die Opfer der Hexenverfolgung als emanzipierte, gelehrte, fortschrittliche und selbstbestimmte – oder in jedem Fall ‚unpassende‘ – Frauen zu benennen und sich damit zu solidarisieren (und auch zu identifizieren).
Wenn Fälle aktueller Pogrome gegen Frauen, die als Hexen beschuldigt werden, als antiaufklärerisch verurteilt werden (als haben diese ‚unzivilisierten Völker‘ noch nicht erkannt, dass es ja gar keine Hexen gibt), scheint vergessen zu werden, wie synonym man Hexenverfolgung und Aufklärung setzen kann. Dass wir ‚dank der Aufklärung‘ dazu befähigt sind, uns von jeglichem Aberglauben zu befreien, sollte wir ‚wider die Aufklärung‘, die aus Aberglaube tötet, anbringen.
We are the weirdos, mister (von ☿)
Im zeitgenössischen Bild der Hexe hat sich vor allem die Verfolgungsgeschichte mit ihren Bildern und Vorwürfen abgelagert. Nur mit mühsamer Quellenarbeit, wie sie etwa Carlo Ginzburg versuchte, lassen sich überhaupt Spekulationen über die Praxis historischer ‚Hexen‘, also von Eingeweihten vorchristlicher, vermutlich (post-)schamanistischer Religionen wagen, die – unter ganz anderen Bedingungen des menschlichen Lebens und seiner Reproduktion entstanden – für uns heute kaum mehr als historisches Interesse haben können.
Die Vorwürfe der Hexenverfolgung dagegen, aus denen das zeitgenössische Bild der Hexe abgeleitet ist, sind uns näher, selbst ein Produkt des neuzeitlichen Geistes, der seine neue Wissenschaftlichkeit in der systematischen Verfolgung und der Folter als Experimentalsetting erprobte. Zweifelsohne bestehen sie weitgehend aus Projektionen auf die ‚Hexe‘, aus unterdrückten Anteilen dieses neuzeitlichen Geistes, die den eigenen Opfern zum Vorwurf gemacht wurden. Der Vorwurf an die Verfolgten, zumeist Frauen, ihrerseits Opfer ‚verhext‘ zu haben, zeugt beredt davon: Ein Mann konnte seinen Ehebruch damit rechtfertigen, mit einem Liebeszauber ‚verhext‘ zu werden, anstatt das Ausleben oder auch nur die Existenz seiner gesellschaftlich unlegitimen sexuellen Bedürfnisse einzugestehen. Auch das Bild des Hexensabbats trägt deutliche Zeichen der Projektion: Hexen sammeln sich des Nachts auf ihrem Kultplatz, um dort ausgelassene Feste zu feiern, zu trinken und zu tanzen, und ihre von sozialen Normen befreite Sexualität auszuleben.
Dementsprechend ist es auch kein Zufall, dass das Idealbild der Hexe eine Frau war: Die Projektion der verdrängten Anteile der eigenen Bedürfnisse, insbesondere der sexuellen Bedürfnisse, auf das Objekt der Begierde festigte gleichzeitig das Bild einer selbstbeherrschten Männlichkeit und konnte als Instrument der Unterdrückung einer selbstständigen weiblichen Sexualität und einem Aufbegehren gegenüber dem Patriarchat dienen. Die Idee, im Zentrum des Hexensabbats stünden sexuelle Praktiken mit dem leibhaftigen Teufel ist entsprechend auch bloß die sekundäre Einhegung der Projektion: Wirklich sexuell selbstständige Frauen waren dann doch zu bedrohlich, um ihr Bild auch nur als Anklage zu verwenden.
Sich auf diese Teile, etwa die Teufelsbuhlschaft oder das Kindsopfer, positiv zu beziehen, wäre eine Reproduktion der Gewalt, da sie die Gegenbilder sind, die einen positiven Bezug auf Geburtenkontrolle und eine Sexualität jenseits der patriarchalen Herrschaft verunmöglichen sollten. Die Faszination, dass das Bild der Hexe auch und gerade heute weckt, beruht nicht auf diesen repressiven Einschlüssen, sondern auf dem von ihnen bekämpften, dem Anspruch, gegen die patriarchale Gesellschaft über den eigenen Körper verfügen zu können. Sie beruht darauf, dass in der Projektion auch heute noch ungehöriges und zu befreiendes ausgedrückt ist. Die Vorzeichen der Projektion sind zu verkehren, um es vom Verächtlich-Gemachten zur Vorwegnahme der Befreiung zu wenden, aber als solche fungieren die genießenden, ihre eigenen leiblichen Bedürfnisse verfolgenden und sich nicht gesellschaftlich repressiven Normen unterwerfenden Hexen als bildliche Vorwegnahme der Revolutionärinnen, derer es heute verlangt.
Do no harm, take no shit (von ♄)
Sollten die Menschen, die zum Anfang der Neuzeit unter dem Vorzeichen der Hexerei verbrannt worden sind, sich als Hexe*r verstanden haben, sie hätten vermutlich trotzdem wenig mit den meisten heutigen ‚Hexe*rn‘ zu tun – die oft irgendwo zwischen differenz-feministschem Ökoempowerment und dem identitären Festhalten an den eigenen Tarotkarten und Kristallen gegen die unwirtlichen Objektivierungen des Kapitalismus, des Patriarchats und der Kirche herumeiern und viel zu schnell in Verschwörungstheorien und Modernefeindlichkeit abdriften. Warum also sich überhaupt positiv auf Hexerei beziehen?
Die Re-Invention hexischer Tradition und Geschichte kann durchaus mehr sein als nur eine regressive Bewegung gegen die komplexe Moderne: Sie kann eine eigenen Sprache und Erzählung von dem Potential erschließen, das in Rausch und Traum manchmal zur Ahnung wird und das es als scheinbar Verlorenes zu suchen lohnt. Nicht gegen die Moderne, sondern als Möglichkeit in ihr und über sie hinaus.
Die Erfahrung ein Teil von Natur, von ihr abhängig und geprägt zu sein (nicht zuletzt einen eigenen Körper und Bedürfnisse zu haben und zu sein) ist für das moderne Subjekt etwas, das es durch Disziplinierung abzuspalten gelernt hat. Hexerei als progressiver Ansatz versucht eine sinnvolle Bearbeitung dieser Erfahrung, versucht in einen dialogischen Austausch mit der Natur-Welt zu treten, anstatt sie zu bezwingen – und dadurch Handlungsfähigkeit zu erlangen.
Wer Magie als Macht versteht, die ihn, Harry-Potter-gleich, zur*zum Welt-Beherrscher*in macht, versucht sich bloß als bürgerliche Subjekts zu verwirklichen; wer von Welt, eigener Geschlechterrolle, Tarot und Kristallen nur nimmt, was ihre Regeln ihm*ihr lassen, findet nicht sein*ihr Schicksal, sondern wirft sich auf Selbstoptimierung und weltbezogene Passivität zurück: Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, was man sich selbst und dem, was die Karten einem wünschen können.
In der Erzählung von Hexer*n kann es aber auch um die gehen, die sich zugleich durch Lebens- und Naturbedingungen präg- und heilbar, also mit ihrer Umwelt verbunden verstehen, und den Verzicht auf diese Erfahrung als Verlust begreifen. Progressive Hexerei könnte ein Widerstand mit der Natur und zugleich gegen den Tod sein. Hexerei heißt dann: Lebensbedingungen, Geschichte, Natur zu verstehen, anzuerkennen und sich zugleich aktiv zu ihnen verhalten (die ‚Magie‘, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und zu befriedigen).
Der*die Hexe*r sammelt dann den Schatz aus Wissen und Praxen, die er*sie selbst im Sinne der eigenen Lebensrealität nutzen lernen muss: das ‚Alter‘ des Wissens kann traditionalistisch gedeutet werden, sein verschüttetsein erfordert aber, es ähnlich einem Märchen zu erzählen, zu ergänzen und zu teilen – und ist damit notwendig deutungsoffen. Motive müssen angepasst, übersetzt und verstanden werden, sie sind zeitlich und kulturell gebunden, zugleich ist die Naturverbundenheit prinzipiell materialistisch: die Wirkung von Kräutern ist konstant, der Jahreskreis an die Erdbewegung gebunden. Das daran orientierte Ritual wird so zur Praxis, die sowohl die objektive Welt (gesellschaftlich wie natürlich), als auch die eigenständige Abstandnahme zu ihr reflektiert. Die Kontemplation des Wiederkehrenden ist für Hexerei ebenso wichtig wie der Wandel und die Möglichkeit ‚mit ihm zu arbeiten‘. Die Welt ist dabei nicht klar abgegrenzt (weder männlich und weiblich noch Mensch und Natur) und hat zugleich wirklich Wirkung, bleibt real und voller Widerstände. Hexerei ist immer ein Aushandlungsprozess mit den Dingen und Menschen selbst, keine höhere Macht die jenseits von ihnen steht – und Hexe*r sind Individuen, die sich ihrer Beziehung wie ihrem Unterschied zu anderen*m bewusst sind.
Rost und Motten zehren vom Bestehenden und leisten vielleicht ihren Beitrag, dass es vergeht.
Rost und Motten ist eine Fanzine. Sie ist an einschlägigen Orten zu finden und per Mail erreichbar (rostundmotten[at]riseup.net), ihr Programm ist auch bei facebook zu finden (rostundmotten).