7. März 2021: Kundgebung an der JVA Chemnitz

Am 7. März findet um 15 Uhr auf dem Parkplatz der JVA Chemnitz eine Antiknast-Kundgebung statt. Als Solidaritätsgruppe Jena der Gefangenen-Gewerkschaft (GG/BO) unterstützen wir die Aktion und rufen zur Teilnahme auf. Den vollen Aufruf findet ihr auf der Seite des Anarchist Black Cross (ABC) Dresden. Wer aus Jena anreisen möchte, kann den Zug 12:20 von […]

Rebecca Seidler – Pädagogischer Umgang mit Antisemitismus

04.03.21 / 19 Uhr In diesem Vortrag/Workshop geht es zunächst um Erscheinungsformen von Antisemitismus im Bildungsbereich. Hierfür werden konkrete Fallbeispiele angeführt, anhand dessen im Folgenden pädagogische Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, um die eigene Handlungskompetenz im Umgang mit Antisemitismus zu stärken. Diese Veranstaltung ist Teil der Reihe “Feindaufklärung. Moderne Formen des Antisemitismus”, die von den Falken Jena … Rebecca Seidler – Pädagogischer Umgang mit Antisemitismus weiterlesen

Yevgen Bruckmann – Israelbezogener Antisemitismus

25.02.21 / 19 Uhr Israelbezogener Antisemitismus zählt gerade in Deutschland zu den aktuellsten Formen des Antisemitismus. Ob im Schulterschluss zwischen den Jusos und der Fatah Jugend, Kulturinitiativen zur Freiheit des Boykotts an Juden und Jüd:innen oder den Aussagen deutscher Minister zur Impfkampagne in Israel, er findet sich in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft wieder.In diesem … Yevgen Bruckmann – Israelbezogener Antisemitismus weiterlesen

Gefangenem in JVA Untermaßfeld wird postoperative Nachsorge verweigert

Ein Gefangener in der JVA Untermaßfeld wurde kurz vor seiner Inhaftierung aufgrund eines Fahrradunfalls an den Handgelenken operiert, wobei ihm Drähte eingesetzt wurden. Seit seiner Inhaftierung Ende September 2020 wurden weder die Drähte entfernt, noch erhält er die postoperative Nachsorge. Wir geben den Bericht des inhaftierten Kollegen vom 4. Januar 2021 im Folgenden wieder. Dieser […]

Feindaufklärung. Moderne Formen des Antisemitismus.

Die Vertreter*innen der Kritischen Theorie waren die ersten, die sich der Konsequenz der Shoa, für die Kritik der kapitalistischen Vergesellschaftung bewusst wurden: dass – vor aller Emanzipation – zunächst die regressive Reaktion auf eine ohnmachtsproduzierende Gesellschaft zurückzuschlagen ist: der mannigfaltige Vernichtungswahn der Antisemit*innen. Eine Linke, die eine befreite Gesellschaft zum Ziel hat, kommt nicht umhin, … Feindaufklärung. Moderne Formen des Antisemitismus. weiterlesen

Puneh Abdi – #DJsForPalestine in der Techno-Szene – Antisemitismus in „antirassistischen“ Zusammenhängen

11.03.21 / 19 Uhr Die antisemitische BDS-Kampagne versucht seit geraumer Zeit, in popkulturellen Zusammenhängen Fuß zu fassen und damit, zusätzlich zum wirtschaftlichen Boykott, Israel auch kulturell zu boykottieren und den Staat letzten Endes zu delegitimieren und zerstören.Neben wiederholten Boykottversuchen beim Pop-Kultur Festival Berlin machte 2018 das Hashtag #DJsForPalestine in der weltweit vernetzten Techno- und Housemusikszene … Puneh Abdi – #DJsForPalestine in der Techno-Szene – Antisemitismus in „antirassistischen“ Zusammenhängen weiterlesen

Matthias Küntzel – Islamischer Antisemitismus – Nazis und der Nahe Osten

18.02.21 / 19 Uhr  Dass die Nazis zwischen 1937 und 1945 keinen Aufwand scheuten, um den Antisemitismus unter Muslimen zu schüren, ist in Deutschland kaum bekannt. Dabei ist gerade diese Facette der deutschen Vergangenheit hochaktuell. Die Begegnung des Nahen Ostens mit der Nazi-Ideologie war zwar kurz, doch sie wirkt bis heute weiter nach. Denn während … Matthias Küntzel – Islamischer Antisemitismus – Nazis und der Nahe Osten weiterlesen

Laura Hammel – “Heimlicher Souverän ist eine kleine Elite”: Zur Aktualität antisemitischer Verschwörungstheorien

11.02.21 / 19 Uhr Von 9/11 über die Fluchtkrise bis Corona: Tritt ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedeutung ein, sind auch Verschwörungstheorien nicht weit. Sie bieten eine triviale Erklärung an, präsentieren einen Schuldigen und legen nahe, dass das vermeintliche Problem mit der Beseitigung des Sündenbocks zu lösen sei.  Verschwörungstheorien präsentieren also ein allzu simples Muster, das doch … Laura Hammel – “Heimlicher Souverän ist eine kleine Elite”: Zur Aktualität antisemitischer Verschwörungstheorien weiterlesen

Anja Thiele – Antisemitismus „von links“? Antisemitismus in der DDR und seine Folgen

02.02.21 / 19 Uhr Ob die DDR ein „antisemitischer Staat“ gewesen sei, ist bis heute Gegenstand kontroverser und emotional geführter Diskussionen. Sowohl pauschale Verurteilungen als auch pauschale Entlastungen sind jedoch oft geschichtspolitisch motiviert und zielen am Kern der Sache – einer analytisch begründeten Kritik des Antisemitismus in der DDR – vorbei. Vor dem Hintergrund anhaltender … Anja Thiele – Antisemitismus „von links“? Antisemitismus in der DDR und seine Folgen weiterlesen

Wegen unbezahlter Arbeit – Arbeiterin stellt Nachforderung an Nordhausener Hausmeister und Paketzusteller Rolf Hübsch

Eine Arbeiterin, die im Corona-Sommer 2020 beim Nordhausener Hausmeister und u. a. für Hermes tätigen Paketzustellservice von Rolf Hübsch beschäftigt war, geht nun mit der Basisgewerkschaft FAU Jena gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber vor. Nachdem sie schon im Oktober 2020 erfolglos die Auszahlung ausstehenden Lohnes gefordert hatte, hat sie im Dezember 2020 die Gewerkschaft eingeschaltet. Die Arbeiterin […]

FAU Jena ruft zu Protesten gegen Sozialkürzungen der Stadt Jena auf

Aufgrund eines prognostizierten Rückgangs der Steuereinnahmen in 2021 will die Stadt Ausgaben kürzen. Nach dem Plan der Verwaltung, dem „Haushaltssicherungskonzept“ (HSK), sind von diesen Kürzungen ausschließlich die Bereiche Soziales, Umwelt, Bildung und Kultur betroffen. So möchte die Stadt – wie so oft in Krisen – die Reichen und die Unternehmen schonen und die Arbeiter:innen und […]

Keine Sprechstunde ab 13.01.2021

Momentan können wir pandemiebedingt keine Sprechstunde anbieten. Sobald das wieder möglich ist, veröffentlichen wir den nächsten Termin hier. Wir sind aber die ganze Zeit per Mail erreichbar: jena@rote-hilfe.de. Solidarität ist eine Waffe! Eure Rote Hilfe Jena

Lirabelle #24

Cover#24

Pünktlich zu Jahresende und Lockdown findet ihr in der aktuellen Ausgabe gleich vier Rezensionen. Zuhause sitzen und Lesen scheint eine weit verbreitete Praxis zu sein, deswegen konnten wir auch nicht wie üblich eine Demonstration aufs Titelbild setzen. Um so schöner, dass trotzdem noch was passiert: Passend zur Innenministerkonferenz wurden Straßenbahnhaltestellen in Erfurt und Weimar mit passenden Plakaten versehen und auch sonst gab es im Herbst 2020 viele kleine und große, klandestine und öffentlich beworbene Aktionen. Letzteres passiert scheinbar immer öfter alleine über Chatgruppen und Facebook. Das hat Folgen dafür, wen man erreicht – uns zum Beispiel eher nicht. Positiv sind uns in den letzten Wochen einige Graffitys aufgefallen. Wer macht Fotos für die nächste Ausgabe? Auch der antifaschistische/antirassistische Ratschlag hat im November stattgefunden – trotz Online-Format mit vielen Teilnehmer*innen.
Ebenfalls erfreulich ist, dass wir für diese Ausgabe besonders großzügige Spenden erhalten haben. „Klasse, wie ihr es immer wieder schafft, ausgehend von lokalen Ereignissen grundsätzliche politische Debatten anzustoßen“ und „Wir haben kaum noch Zeit für Bewegung, dafür aber Geld, deswegen anbei eine etwas größere Spende“, so zwei Anschreiben. Vielen Dank. Zumindest das Spenden sei zur Nachahmung empfohlen. Dass so viele Genoss*innen kaum noch Zeit haben, weil sie sich mit Lohnarbeit rumschlagen (müssen) und auch vormals eher entspannte Lebensphasen (Studium, Erwerbslosigkeit) immer stressiger werden, gefällt uns nicht. Vielleicht wäre es mal mal wieder Zeit, die Debatte darüber zu führen? Wir würden uns über Analysen, Strategiepapiere, Interviews oder Collagen dazu freuen.

Die Redaktion der Lirabelle 24

  • News
  • Leser*innenbrief: Im Zweifel für die Bullen
    Ein Leser*innenbrief kritisiert zwei Artikel in der Lirabelle 22 und 23 und einen paternalistischen Blick auf Geflüchtete, der nicht nur dort zum Ausdruck kommt.
  • Rassismus ist nicht neutral
    Die Antifa Suhl/ Zella-Mehlis berichtet über einen rassistischen Übergriff, der sich in der Nacht vom 29. auf den 30. August 2020 in einem Linienbus in Suhl Nord zugetragen hat und beurteilt die Berichterstattung der Lokalpresse sowie das Vorgehen der Polizei.
  • Nicht schelcht, aber nicht gut weil zu mittelmäßig
    Die Bundesregierung hat einen Maßnahmenkatalog gegen Rassismus zusammengeschustert. Ist das was? Naja. Schlenko geht der Frage nach, warum derartige Pläne ab einer gewissen Schwelle zu mau sein müssen und erinnert daran, dass Antirassismus und Antifaschismus einen weiteren Weg eingeschlagen sollte, als der vom Staat anvisierten.
  • Anarchistischer Widerstand gegen das Regime in Belarus
    Fabian schreibt über die Proteste gegen Lukaschenko und welche Rolle Anarchist:innen darin haben.
  • „Vor allem Sonntagabends“
    Das Lieblingsfreizeitthema von Beta ist Sexualität und alles was dazu gehört. Bei ihren Dates mit Männern außerhalb ihres Klüngels macht sie so allerlei verwirrende Erfahrungen. In der Lirabelle schreibt sie in loser Folge aus feministischer Perspektive über ihre Erlebnisse, diesmal über ein doch nicht so ungestörtes Date in der Sauna.
  • Über das Lob für Adornos „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“
    Im Sommer 2019 wird ein Vortrag von Adorno von 1967 erstmals verlegt und findet großen Anklang. Anlass des Vortrags war der Einzug der NPD in mehrere Landesparlamente und die heutigen Rezensent*innen finden an seinen vorgetragenen Aspekten vieles wieder, was in Zeiten des Aufstiegs der AfD los ist. Die Gruppen gegen Kapital und Nation nehmen das öffentliche Lob kritisch unter die Lupe.
  • Gespräch mit Freundin, Freund und Freund
    Berta Beziehungsgeflecht rezensiert einen Sammelband, der fragt, ob und wenn ja wie Poly leben und Revolution zusammenhängen kann.
  • Identitätspolitiken
    Karl Meyerbeer findet, dass die Lea Susemichel und Jens Kastner präzise und trotzdem leicht verständlich Ordnung in die Diskussionen um Identitätspolitiken bringen, wodurch es gelingt, mit weit verbreiteten Fehlschlüssen über das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft aufzuräumen.
  • Glitter up the Geschlechterverhältnisse
    Rockstars singen Falsett, im Internet treffen sich nichtbinäre Wesen mit hybridem Begehren und mit dem Synthesizer verschmelzen Mensch und Maschine zum Cyborg. Das Patriarchat ist am Ende. Oder ist der wummernde Synthesizer nur eine Schwanzverlängerung für den Rocker, Archetyp kriegerischer Männlichkeit? Karl Meyerbeer hat zwei sehr unterschiedliche Bücher über Geschlechterverhältnisse in Pop und Rock gelesen.
  • >Wie Polizei und Staatsschutz Linksradikale jagen
    Eine Rezension von Fabian.
  • Die Aluhut-Chroniken XIX: Q-Tips für „Q“
  • Gespalten und Kopflos
    Eine Collage von Lara Alicia/ aparthy.

Gespalten und kopflos

Eine Collage von Lara Alicia/ aparthy.

Wir gehören seit unzähligen Jahrzehnten zusammen. Ja, wirklich! Ich bin mir nicht im Klaren darüber, seit wann ich die beiden Fratzen bereits mit mir herumschleppe. Inzwischen bilden wir ein kollektives Konglomerat. In stetiger Abhängigkeit des aktuellen Tagesgeschehens hat das eine oder andere Gesicht die Oberhand. Es liegt somit auch am Ton unseres Gegenübers, ob wir entscheiden, angewidert zu spucken; kokett zu schmunzeln oder partiell zu erzittern. So geben Sie Acht auf uns, dankesehr. Zwar traut sich kein einziger unserer Köpfe, aufmüpfig zu werden, doch sind wir ein eingeschworenes Trio – ob Sie es glauben möchten, oder nicht. Während der Erste hin und wieder überlegt, die Flucht zu ergreifen, weil der Zweite gar freundlichst auf ein jeden Fehler hinzuweisen vermag, arbeitet der Dritte unentwegt weiter. Er lässt sich von der Identitätskrise dreier Köpfe und eines Verstandes weder beirren, noch anstecken. Sehen Sie zu, wie wir jeden Tag miteinander zu jonglieren versuchen. Andernfalls lassen Sie es gern bleiben. Denn eine Lösung finden wir stets und ständig. Die Unausgewogenheiten des eigenen Hauptes gilt es im Nachhinein zu begradigen. Wir schlagen uns durch, schlagen die Augen auf und bei Ihnen – schlagen wir zu!

Collage: Gespalten und kopflos

Q-tips für „Q“

Als Anfang der 2000er eine Thrillerreihe rund um den rätsellösenden Harvard-Professor Robert Langdon erschien, war nicht klar, dass das kommende Jahrzehnt ganz im Zeichen der Verschwörungen in Buch und im Kino stehen würde. Verkörpert durch Tom Hanks begab sich eben jener Robert Langdon auf die Suche nach der Wahrheit durch „Da Vinci Code“, „Illuminati“ und „Inferno“. Mit abenteuerlichen Reisen und mit kryptische Rätseln, die 200 Jahren lang nicht gelöst werden konnten (aber durch Langdon meist in 5 Minuten geknackt wurden), erreichten diese Geschichten ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt und schuf eine ganze Reihe an Nachfolgefilmen und Büchern. Und nur ein Jahr nach dem letzten Film begann „Q“, eine ähnliche Rätselschnitzeljad im Internet zu inszenieren. Die Massen, eingelullt von einem Jahrzehnt popkulturellen Popcornverschwörungen und immer bereit, das Böse im Anderen zu suchen, nahm diese Quest mit Freude auf. „Q“ ist dabei so etwas wie ein Dungeonmaster und hat nach eigener Angabe eine Top-Secret-Freigabe des US Regierung („Q Clearance“) und direkten Zugang zu Donald Trump. Immer wieder verteilt er nebulösen Andeutungen in Forenposts („Q-Drops“) die seine Fangemeinde zu weiteren Recherchen animieren soll. Anfangs waren die Posts sogar sehr konkret: „Q“ nannte ein Datum an dem Hillary Clinton verhaftet werden sollte oder wann liberale Journalisten sterben sollten. Doch als diese Ereignisse nicht eintraten, wurden die Posts immer kryptischer und ironischerweise stieg dadurch ihre Popularität. Kernthese von „QAnons“ ist, dass die Demokrat:innen und der „Deep State“ in den USA die Errichtung einer weltweiten Superdiktatur vorbereiten und nur Donald Trump diese stoppen kann. Anders als manch andere Verschwörer ist „Q“ bereit, so ziemlich jeden Blödsinn in die eigene Geschichte zu integrieren: Die Demokrat:innen betreiben einen Pädophilienring und trinken das Blut von Kindern um ewiges Leben zu haben, Corona ist eine Erfindung der Eliten, um Trump zu brechen, die Weltbevölkerung zu dezimieren oder per Impfung mit Mikrochips zu versehen. Und hinter allem stecken – das ist leider keine Überraschung – die Juden. Obwohl Donald Trump doch ohne Frage der israelfreundlichste Präsident der letzten Jahrzehnte gewesen ist. Aber was kümmern „Qanon“-Anhänger:innen solche nebensächlichen Widersprüche. Was sich wie die Blaupause für den nächsten Robert-Langdon-Film anhört, hat jedoch schon zu einer ganzen Reihe an Straftaten bis hin zu mehreren Morden geführt. Und Qanon-Anhänger:innen haben auch in Europa ihren Netze ausgeworfen: Die eigentlich sehr US-lastige Erzählung wird munter an schon bestehende europäische Verschwörungstheorien angedockt und diese integriert. So glauben inzwischen auch deutsche Reichsbürger:innen und Impfgegner:innen an die rettende Kraft des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Wohlgemerkt dieselben Leute, die noch vor einem Jahr davon gefaselt haben, dass ihr Deutschland noch immer von den USA besetzt ist. Aber zum Glück rettet am Ende eines jeden Langdon-Werks der Professor die Welt in letzter Sekunde. Es bleibt also die Frage welch dramatisches Ende sich „Q“ ausdenken wird.

Wie Polizei und Staatsschutz Linksradikale jagen

Eine Rezension von Fabian.

In Sachen Terrorismus sind die Prioritäten deutscher Sicherheitsbehörden klar gesetzt. Wenn eine linksradikale „militante gruppe“ (mg) Brandanschläge auf Polizei-, Firmen- oder Bundeswehrlogistik verübt, dann ist das eine andere Qualität, als wenn Neonazis im Untergrund ein Netzwerk aufbauen und jahrelang Menschen erschießen. Bei erstem zieht man alle Register, bei letzterem bringt man lieber alle Register 120 Jahre unter Verschluss.
„Mit aller Härte“ ist der Titel von Frank Brunners Buch aus dem Jahr 2017. Er begleitet in seiner Erzählung den Weg mehrere Linksradikaler, denen später vorgeworfen wurde Teil der „mg“ gewesen zu sein. Das Buch bezieht sich dabei auf Protokolle, Ermittlungsakten und natürlich Erzählungen derjenigen, die vom deutschen Staat observiert, überwacht und schließlich vor Gericht gebracht worden sind.
Brunner beschreibt mehrere Phasen der Ermittlungen, der Verhaftungen und des Prozesses gegen die „mg“, wobei der Fokus auf die Begleitung des Hauptakteurs Oliver Rast liegt. Rast wurde 2010 zu dreieinhalb Jahren verurteilt, da das Gericht eine Mitgliedschaft und Tatbeteiligung an Aktionen der „mg“ als erwiesen ansah. In den Beschreibungen Brunners wirkt Oliver Rast wie ein Vorzeigeproletarier, der selbst im Knast noch die Gefangenengewerkschaft (GGBO) aufbaute. An manchen Stellen driften die Beschreibungen von Rast fast schon in eine Art Personenkult ab. Vor allem wenn man als aufmerksamer Leser schon nach den ersten Kapiteln begriffen hat, dass Rast ein Vorzeige Antiimperialist und Kommunist ist, so dass man sich bei der dritten ausführlichen Beschreibung des Proletarier-Pathos fragt, was Brunner hier alles auf Rast projizieren möchte. Doch angesichts der aufgeführten Repressionen des deutschen Staates gegen eine linksradikale Zelle mit Brandsatzanleitung – stilecht aus der „radikal“ – braucht es vielleicht auch die Figur des standhaften Linken als Protagonisten. Denn mit jedem weiteren Kapitel fällt es selbst den hartgesottenen Autonomen schwer, nicht doch mit dem Kopf zu schütteln.
Immer wieder fällt auf, dass BKA, LKA‘s und der Verfassungsschutz über Jahre einen enormen Aufwand betrieben haben um die „mg“ zu verfolgen, dass es schon erstaunlich ist, wie wenig sie am Ende wirklich über die Gruppe herausgefunden haben. Dafür wurde alles was an der Hand von Ermittlungsführern und Staatsanwälten links des kleinen Fingers war durchleuchtet und auspioniert. Mehrere Menschen aus der radikalen Linken in Berlin der 2000er wurden systematisch abgehört und überwacht. Aus einer Verabredung zum Kaffee schlussfolgerten Beamte eine Absprache weiterer Anschlagsziele. Ein Kneipenabend von Freunden wurde zum Redaktionstreffen des autonomen Blattes „radikal“. Alles war möglich, aber am Ende war die radikale Linke in den 2000ern in Berlin doch harmloser, als es sich so mancher ambitionierter Beamter erhofft hatte. Vielleicht auch deshalb schlüpften Berliner Staatsschützer selbst in den schwarzen Kapuzenpulli um an einem von ihnen geschriebenen und unter einem Pseudonym eingeschickten Artikel in der „interim“ die „mg“ zu provozieren und eine Militanz-Debatte in dem autonomen Blättchen loszutreten. Man stelle sich nur mal vor, der Thüringer Staatsschutz tritt unter falschen Namen in der Lirabelle eine Debatte über gendergerechte Sprache auf Partyflyern der Linken im Veto los. Die Szene wäre die nächsten Monate nur mit sich selbst beschäftigt.
Während die Ermittlungen gegen die „mg“ schon allerlei Absurditäten, mit zum Teil schwerwiegenden Konsequenzen für Betroffene lieferten, geht Brunner am Ende auf den Prozess gegen die vier Hauptangeklagten ein. Hier verdeutlicht sich anhand einer übersichtlichen Protokollierung der Prozesstage, was in den vorherigen Kapitel vor allem aus der Sicht der Observierten geschildert wurde. Es entsteht ein Gesamtbild, wie der Staat die radikale Linke ins Visier nahm und nimmt. Beamte in aufwendigen Kostümen, um von potenziellen linken Terroristen vor Gericht nicht erkannt zu werden, erzählen von abenteuerlichen Operationen an dessen Ende keinerlei Erkenntnisgewinn stand oder sagen vor Gericht einfach nichts. Vor allem die eingesetzten Mitarbeiter des Verfassungsschutzes dürfen nach eigenen Angaben meist nichts sagen. Generell scheinen Beamte im Sicherheitsapparat vor Gericht lieber das zu sagen, was sie alles nicht wissen, als das was sie wissen. Das Ausmaß der Repression und der Schilderungen Brunners über die Betroffenen zeigt aber nicht nur mit welcher Härte der Staat gegen Linke vorgeht, sondern auch, dass es nicht das Ende ist. Sondern mit genügend Mut und Solidarität auch dieser Repression begegnet werden kann. „Mit aller Härte“ von Frank Brunner ist ein lesenswertes szenisches Protokoll einer Jagd des Staates auf Linke. Deren Ausmaß zwar durchaus beängstigend ist, aber letztlich klar wird: Der Kampf geht weiter!

Frank Brunner: Mit aller Härte – Wie Polizei und Staatsschutz Linksradikale jagen. Köln, Bastei Lübbe 2017, 256 Seiten, 15€.

Glitter up the Geschlechterverhältnisse

Rockstars singen Falsett, im Internet treffen sich nichtbinäre Wesen mit hybridem Begehren und mit dem Synthesizer verschmelzen Mensch und Maschine zum Cyborg. Das Patriarchat ist am Ende. Oder ist der wummernde Synthesizer nur eine Schwanzverlängerung für den Rocker, Archetyp kriegerischer Männlichkeit? Karl Meyerbeer hat zwei sehr unterschiedliche Bücher über Geschlechterverhältnisse in Pop und Rock gelesen.

„Glitter Up the Dark – How Pop Music Broke the Binary“, dieser Titel ist Programm: Sasha Geffen geht davon aus, dass die klaren Ordnungskriterien fein säuberlich unterscheidbarer Identitäten – The Dark, die dunkle Seite der Moderne –, eigentlich nie wirklich aufgehen, sondern ständig durch Abgrenzung neu hergestellt werden müssen, um die heteronormative und weiße Ordnung der Dinge zu erhalten. Dabei entstehen Brüche. Wie diese im Feld der Pop­mu­sik sichtbar werden, ist Gegenstand des Buches. Dessen große Erzählung ist, dass Veruneindeuti­gungen ständig und überall auftreten, diese immer wieder übersehen, marginalisiert oder integriert werden – wobei trotzdem auf lange Sicht die Verbindlichkeit der Normalität abnimmt. Geffens Lesart findet das Nichteindeutige auch bei Künstler*innen, von denen man das nicht erwartet, z. B. den Beatles: Haare, die über den Hemdkragen ragen, seien in den 1960ern in den USA ein klares Zeichen für Femininität und Homosexualität gewesen, ebenso wie Singen und sich sinnlich Bewegen. So kann Geffen auch Elvis‘ Auftritte als Verletzung hegemonialer Männlichkeit deuten. Weil bei den Konzerten der Beatles die Stimmen der kreischenden Teenager die Band übertönt hatten, fand auch dabei – so Geffen – eine Verschiebung statt. Die eigentlichen Stars seien nicht die Musiker, sondern die kreischenden Teenager gewesen. Gelungen sei dies, weil Brian Epstein (der Manager der Beatles), der Welt seinen (schwul begehrenden) Blick auf die vier gutaussehenden Jungs aus Liverpool aufgezwungen habe. Gewährspersonen für die große These der Veruneindeutigung ist für Geffen oft die Gegenseite: konservative Moralhüter, die Elvis, Alice Cooper oder die Beatles als schwul und weibisch beschimpft haben. Punk wird nur aus der US-Perspektive besprochen. Psychedelic mag Geffen nicht, Glam um so mehr. Wobei der Erfolg von Rockstars, die sich in knallbunte Gummianzüge quetschen – z.B. Marc Bolan und David Bowie – als kulturelle Aneignung von Drag- und Trans-Kultur kritisiert wird – die trotzdem „eine Transzendenz von Männlichkeit“ bedeutet habe. Veruneindeutigungen findet Geffen auch in Technologien: Verzerrer machen unklar, ob die Töne vom Mensch oder von der Maschine kommen, der Synthesizer wird zur „Erweiterung des Körpers“, Musiker*innen dadurch zu Cyborgs. Es passt also alles rein in die große Erzählung: Die machtvolle Herstellung von Eindeutigkeit bringt ständig Brüche hervor, die zeigen, wie fragil die Normalität ist. Das ist oft plausibel und gut erzählt – interessant beispielsweise, wie stark die New Yorker Wave- und Punk-Szene von den Stonewall-Riots und den Queers rund um Andy Warhols „Factory“ beeinflusst war. Allerdings scheint mir, dass der Gegenstand teilweise ein wenig zurechtgebogen wird, um in die Erzählung zu passen: Bestimmt haben Stings Falsettgesang, David Bowies Kostüme und Iggy Pops sexy Bühnenpräsenz dazu beigetragen, traditionelle Männerbilder zu erweitern und vielleicht auch ihren konstruierten Charakter offengelegt und damit Möglichkeitsräume für Nichtbinäres erweitert. Stings pädophile Texte, Bowies sexuelle Übergriffe und Pops Hypermaskulinität lassen sich aber gleichzeitig geradezu als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit deuten. Aber alles, was auch nur ein Wenig mehrdeutig, verschwommen, unklar ist, wird von Geffen als Beispiel für die veruneindeutigende und damit befreiende Kraft des Pop herangezogen. So wird auch der vom Management kalkulierte Skandal der Newcomer-Boy-Band Frankie goes to Hollywood und deren (sehenswert) schwulem Video zu „Relax“ als Befreiungsgeschichte erzählt. Hip-Hop gilt per se als widerständig, weil es eine schwarze Kultur ist und Sampling vielschichtig Bedeutungen dekontextualisiert und dekonstruiert. Und sogar Grunge wird als Geschlechterverwirrung gedeutet, weil Kurt Cobain mal in einem Interview meinte, er habe sich immer besser mit Frauen verstanden als mit Männern. Es mag sein, dass mein Urteil zu harsch ist, weil ich das (englische) Buch nicht immer gut verstanden habe, aber trotzdem: mir geht die Eindeutigkeit der großen Veruneindeutigungs-Erzählung an vielen Stellen zu weit.
Fast eine Gegenthese ist das 1995 auf englisch erschienene und jetzt in einer erweiterten Neuauflage mit zusätzlichen Kapiteln ins Deutsche übersetzte „Sex Revolts“ von Joy Press und Simon Reynolds. Schon im Vorwort beziehen sich die Autor*innen auf ein theoretisches Schwergewicht: Klaus Theweleits „Männerfantasien“ – ein 1977/78 erschienener zweibändiger Wälzer, in dem der Autor zeigt, wie sich in den 1920er-Jahren die protofaschistische Psyche in einem beziehungsunfähigen, agressiven, körpergepanzerten Männlichkeitstyp manifestiert. Auch bei Press/Reynolds haben wir eine starke These, die sich durch das ganze Buch zieht: Rock wird als Geschichte von Abgrenzung und Beziehungslosigkeit erzählt, als egomanische Version von Freiheit. Der Rock-Rebell stößt sich von allem Weiblichen und Mütterlichen ab: von Passivität, Zurückhaltung, Häuslichkeit und sozialen Normen. Sein Alptraum ist ein Einfamilienhaus mit Ratenzahlung. Im diskursiven Universum der Rockstars tauchen Frauen – wenn überhaupt – als hinterhältige und klebrige Agentinnen von Konformität und Anpassung auf, die den Rocker festhalten und damit seiner unbändige Männlichkeit berauben wollen. Dagegen er, alleine, Free as a Bird, Fly Like an Eagle, Like a Rolling Stone. Den musikalischen Ausdruck dieser Geschichte nennen Press/Reynolds Cock-Rock – phallische Musik, die in Präsentation (Gitarren-Masturbation), Musik (wummernder Beat, krachende Riffs, Geschwindigkeit, Lautstärke) und Texten vom Kampf und Tod eine kriegerische Männlichkeit abfeiert. Besonders eindrücklich im Heavy Metal, einer „Phantasiewelt pubertierender Jungs“, „voller Explosionen, Invasionen und keuscher, mädchenfreier Abenteuer“ – oder imaginierter sexueller Gewalt. Iggy Pop wird ausführlich als Paradebeispiel für offen frauenfeindliche, kriegerische, ungebundene Männlichkeit herangezogen – komplett mit Begeisterung für Ronald Reagan und Mordphantasien gegenüber Frauen. Auch die Deutung der quietschbunten Verkleidungswelt des Glam-Rock unterscheidet sich deutlich von der im anderen hier rezensierten Buch: Bolan und Bowie im hautengen Dress und mit Glitter würden, so Press/Reynolds, vor allem zeigen, dass sie sich selbst genug seien und mit ihrem selbstverliebten Auftreten einen zentralen Aspekt von Männlichkeit auf die Spitze treiben: die Selbstbezüglichkeit. Ihre Androgynität zeige in diesem Sinne vor allem eines: dass sie niemanden außer sich selbst brauchen. Eine Gegenbewegung zu dieser ausführlich begründeten Geschichte selbstbezüglicher Männlichkeit sehen Press/Reynolds in „ozeanischer“ und sphärischer Musik: Die wabernden – hier würde „uneindeutigen“ auch passen – Klänge von Psychedelic Rock und Ambient deuten die Autor*innen als Ausdruck einer psychischen Sehnsucht nach Ruhe und Passivität im Uterus: „Mein idealer Lebenszustand wäre der der völligen Inaktivität“, so Robert Wyatt, Sänger der Progrock-Band Soft Machine (und Kommunist). Auch das heute erkennbar auf Schwäche und Passivität zurechtgemachte Männlichkeitsideal im Pop – vermutlich auch das aktuelle, fürchterliche Radio-Gedudel zwischen Deutsch-Pop und Schlager – gehört zu dieser Traditionslinie. Im Grunde sehen Press/Reynolds „zwei Fraktionen, die um die Seele des Rock‘n‘Roll kämpfen: Punks vs. Hippies, Krieger vs. Softies“, als männliche Psychodynamik zwischen Unabhängigkeit durch Muttermord und inzestuöser Wiedervereinigung mit dem Weiblichen. Gerade diese Gegenüberstellung macht deutlich, wie grundsätzlich unterschiedlich die Herangehensweisen der beiden Bücher sind: Press/Reynolds gehen von gegensätzlich und einander ergänzend konstruierten Subjektpositionen (Mann-Frau, Krieger-Softie, dazu die passenden kulturellen Formen) aus und finden diesen Antagonismus natürlich auch überall – kein Wunder, die gegenwärtige Gesellschaft ist ja tatsächlich stark cissexistisch und heteronormativ strukturiert. Geffens Position – das Nichtbinäre – wird von Press/Reynolds nicht gesucht und daher auch systematisch übersehen. Davon ausgehend ist es vielleicht angemessen und politisch richtig, dass Geffen ebenso systematisch – durch Übertreibung – darauf besteht, dass das Nichtbinäre überall ist und auch immer schon war.
Beide Bücher sind nicht nur für Musiknerds interessant. Viele der herangezogenen Künstler kennt man aus dem Radio, die diskutierten Fragen sind für alle relevant, die sich für das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft interessieren. Die angesprochenen Theorie-Kapriolen – Queer-Theory im einen, Psychoanalyse im anderen – werden so sparsam ausgeführt, dass man sie auch überblättern kann, ohne dass die Bücher dadurch unverständlich oder langweilig werden. Für spannende Musiktipps ist „Glitter Up the Dark“ besser geeignet. Die Lektüre von „Sex Revolts“ birgt immer die Gefahr, sich gerne Gehörtes zu vermiesen, weil man mitkriegt, wie patriarchal es funktioniert.

Sasha Geffen: Glitter Up the Dark – How Pop Musik broke the bianry. Austin, University of Texas Press 2020, 254 Seiten, 17,65€.

Joy Press, Simon Reynolds: Sex Revolts – Gender, Rock und Rebellion, Main, Ventil 2020, 472 Seite, 30€.

Identitätspolitiken

Karl Meyerbeer findet, dass die Lea Susemichel und Jens Kastner präzise und trotzdem leicht verständlich Ordnung in die Diskussionen um Identitätspolitiken bringen, wodurch es gelingt, mit weit verbreiteten Fehlschlüssen über das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft aufzuräumen.

Um Identitätspolitiken wird viel gestritten. Dabei besteht die häufigste Verkürzung darin, strikt zwischen Klassenkämpfen um soziale Ungleichheit auf der einen und Kulturkämpfen um Rassismus und Geschlechterverhältnisse auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dagegen lässt sich einwenden, dass bei dieser „ausschließenden Gegenüberstellung […] die vielen – praktischen wie theoretischen – Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenz mit jenen gegen soziale Ungleichheit übersehen“ (13) werden. Beide finden aber in allen Politikfeldern statt. So ist etwa der Klassenkampf der Arbeiterbewegung undenkbar ohne den identitätspolitisch motivierte Aufbau von Bildungsvereinen, Kneipen und Sportvereinen von und für Arbeiter (ohne *innen). Mit Marx gesprochen ging es darum, von der Klasse an sich (also der sozialstrukturellen Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe, die ausgebeutet wird) zur Klasse für sich (also einer kämpferischen Arbeiterklasse, die um ihre gemeinsame Situation weiß) zu kommen (49). Der gemeinsame Kampf gegen Klassismus – die symbolisch-kulturelle Abwertung von Arbeiter*innen – war in diesem Kontext kein Ersatz für Klassenkampf, sondern Strategie, „Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft“ (14).
Das Buch diskutiert genau diese Verknüpfungen, die hier nur beispielhaft genannt wurden, entlang politischer Bewegungen (Arbeiterbewegung, Black Liberation, koloniale Befreiung, Frauenbewegung, Queer-Feminismus) und deren Strategien.
Dabei gelingt es den Autor*innen durchgängig, eine begründete Position zwischen „zwei Querfronten“ (19) einzunehmen: Zwischen den entschiedenen Befürworter*innen von Identitätspolitik, die dazu neigen, „den gewaltförmigen Konstruktionscharakter von kollektiver Identität zu übersehen“ (ebd.) und den Gegner*innen, die den herrschaftlichen Charakter des Universalismus der Aufklärung übersehen, der es blendend erlaubt, formale Gleichheit mit realer Ungleichheit zu verbinden. Als „Querfront“ bezeichnen die Autor*innen die beiden Verkürzungen, weil die Vertreter*innen der kulturalistische Verkürzung am Ende mit dem BSD für das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ demonstrieren, während das universalistische (und vulgärmarxistische) Lager am Ende mit der AfD „gegen Islamismus“ agitiert.
Neben politischen Strategien diskutieren die Autor*innen sozialpsychologische und philosophische Theorien von Identität und Subjektivität – Kritische Theorie, westlicher Marxismus, Cultural Studies. Ausgangspunkt ist dabei das Dilemma, dass „jede linke Identitätspolitik“ darin gefangen bleibt, „sich notgedrungen positiv auf die Kategorie beziehen zu müssen, die gerade die Grundlage der eigenen Unterdrückung bildet“ (32).
Das Buch ist in elf Kapitel aufgeteilt. Einleitung und Zusammenfassung („gegen Individualisierung, für Solidarität“ (131ff)) lassen sich separat lesen.
Die Kapitel, die einzelne, teils historische, Bewegungen und deren politische Strategien diskutieren, werden unterbrochen durch Theoriekapitel, die aber auch allgemeinverständlich bleiben. Zwei Exkurse diskutieren zum einen das wechselseitige Verhältnis von Sichtbarkeit/Repräsentation und tatsächlicher politischer Macht sowie die Problematik des linken Nationalismus als Übernahme rechter Identitäspolitiken beispielsweise durch PODEMOS oder den nationalen Flügel der PDL.
Wer sich (wie der Rezensent) manchmal ratlos zwischen vulgärmarxistischer Besserwisserei („Der Kapitalismus beutet alle Menschen gleichermaßen aus“, deswegen sollen Frauen und POC sich mal nicht so anstellen) und kulturalistischen Moralapellen („Hört den Betroffenen zu und reflektiert eure Privilegien“) wiederfindet, wird dieses Buch gerne lesen. Obwohl es viel hilfreicher wäre, wenn diejenigen, die sich (mit oder ohne Begründung) ganz sicher sind, dass postmoderne und Queer-Theory schlimm oder Wursthaar auf Kartoffelköpfen böse ist, es lesen und ihre identitäre Nische verlassen würden.

Lea Susemichel, Jens Kastner: Identitätspolitiken – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster, Unrast 2020, 150 Seiten, 12,80€.

Gespräch mit Freundin, Freund und Freund

Berta Beziehungsgeflecht rezensiert einen Sammelband, der fragt, ob und wenn ja wie Poly leben und Revolution zusammenhängen kann.

Sich in einer Beziehung mit mehreren Personen zu befinden und dies anderen Leuten zu erklären ist manchmal gar nicht so einfach, besonders außerhalb der eigenen kleinen, linken Bubble. Denn wie kann anderen schnell erklärt werden, zu wem ein romantisches Beziehungsverhältnis oder ein freundschaftliches Verhältnis besteht und das letzteres keineswegs Kuscheln, Pflege- und Carearbeit ausschließt. Die Freundschaftsbeziehung befindet sich auch keinesfalls nachrangig zu den romantischen Beziehungen. Wenn die Rede von „einem Freund“ ist, unterschlägt das bei vielen, dass ein romantisches Verhältnis besteht, aber wenn „mein Freund“ fällt, wird meist automatisch davon ausgegangen, dass er „der Einzige“ wäre und zu diesem eine monogame heteronormative Beziehung bestünde. Diese Sprachmissverständnisse können in der normativen kapitalistischen Gesellschaft wahrscheinlich gar nicht überwunden werden und auch der perfekte Begriff würde nicht alles einschließen, da Begriffe immer Grenzen aufzeigen, aber häufig fließende Übergänge bei zwischenmenschlichen Beziehungen bestehen. Mensch sollte also vielleicht versuchen, offen zu sein, ob auf der Beziehungs-Mindmap des Gegenübers noch ein paar mehr Personen eingezeichnet werden müssen. Von diesen kleinen Problemen, aber auch von größeren gesellschaftlichen Konflikten, die dadurch ausgelöst werden, dass Personen sich nicht in einer monogamen heteronormativen Beziehung befinden, wird im Sammelband berichtet. In 17 Beiträgen wird sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Frage beschäftigt, ob Polybeziehungen einen emanzipatorischen Kern haben. Dabei wird deutlich: Revolution zu machen oder anzustoßen ist niemals leicht.
Denn auch wenn viele Beziehungspolyküle (beschreibt eine Beziehungsansammlung von Menschen, welche in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen) einen politischen Anspruch haben, kann es vorkommen, dass dieser auf der Strecke bleibt und sich in den typischen sozialisierten Verwirrungen und Irrungen der Gesellschaft verliert. Sehr positiv finde ich dabei, dass die Beantwortung der Frage nach dem emanzipatorischen Kern nicht zu einer Frage von Mono- vs. Polybeziehung verkommt. Sondern das jede Person, egal in welcher Art von Beziehung, ihr eigenes emanzipatorisches Potential erkennen soll, um sich dann mit Menschen zusammenschließen und Banden zu bilden, um einen Systemwandel voran zu treiben.
Des weitern werden im Sammelband unterschiedliche Aspekte und Probleme, die sich aus Polybeziehungen ergeben können, betrachtet. Zum Beispiel wird im Beitrag „Kommunikative Gewalt in Polykülen: Klassische Kommunikationspraktiken“ auf viele Fallen für ungleiche Machtverteilung hingewiesen, die bei Zwang zu einer offenen Kommunikation entstehen können. Es wird verlangt, dass die Person an sich selbst arbeiten solle, damit sie Gefühle wie Eifersucht nicht mehr spüre. Dadurch werden Probleme in der Gruppe zu Einzelproblemen gemacht. Die Probleme werden personalisiert und nicht strukturell betrachtet.
In einem anderen Beitrag wird thematisiert, warum Menschen sich dazu entschieden haben polyamore Beziehungen einzugehen. Dabei wird deutlich, dass es nicht den einen Grund gibt, sondern viele Verschiedene. Auch wird klar, dass es nicht die eine Art Polyamorie auszuleben gibt. Es gibt sehr unterschiedliche Menschenkonstellationen und auch wie eng die Bindungen untereinander sind, unterscheidet sich stark. Aber bei allen wird versucht, die kleinfamiliäre Privatheit zu überwinden und einen Gegenentwurf zum heteronormativen Weltbild zu schaffen. Ob dies in allen Aspekten der Fall ist, bspw. auch bei der Aufteilung der Carearbeit, wird in einem Beitrag behandelt. Es wurden einzelne Polyküle beschrieben. Diese Beschreibungen haben einen kleinen Einblick geschafft, wie ein Polybeziehungsgebilde aussehen kann, aber ich finde, dass durch diese einzelne Betrachtung wenig darüber aussagt werden kann, wie emanzipatorisch nichtmonogame Polybeziehungen im Allgemeinen sind, oder ob dieses Potential nur bei diesem bestimmten Polykül erkennbar ist. Das Problem würde ich aber nicht auf die jeweiligen Beiträge schieben, sondern auf die dünne wissenschaftliche Quellenlage beim Thema Polyamorie. Kurz angerissen wird das Thema online-dating und die Hindernisse, die es für eine Poly-Person darstellen kann, aber auch welche Vorteile es bietet schnell jemanden kennen zu lernen.
Die meisten der Beiträge sind in verständlicher Alltagssprache verfasst. Mensch kann das Buch also gut am Strand oder gemütlich auf dem Sofa lesen – nur für manche der Beiträge braucht es eine Schreibtisch-Atmosphäre.
Insgesamt verschafft der Sammelband einen guten Überblick und hilft Interessierten, wie Skeptiker*innen einen guten Einstieg in das Thema Polybeziehungen zu finden. Es handelt sich keinesfalls um einen Beziehungsratgeber, sondern die unterschiedlichen Probleme, die in Polybeziehungen entstehen könne, werden aus einer gesellschaftskritischen Perspektive heraus betrachtet. Es gibt zwar auch einzelne Beispiele von Beziehungsgebilden, aber diese beschreiben meist Ausschnitte und geben nur einen kleinen Einblick in mögliche zwischenmenschliche Probleme. Der Sammelband hat mir insgesamt gut gefallen und ich würde ihn einer Freund*in weiter empfehlen, denn er liefert nochmal gute Denkanstöße, wie eine emanzipatorische Praxis aussehen kann. Was am Ende zählt ist, dass sich alle Menschen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie umgeben auseinandersetzen und sich überlegen wie sie sich zusammenschließen wollen, um für Veränderung zu kämpfen. Sei es, dass sie sich in einer Poly- oder einer Monogamen Beziehung befinden.

Michel Raab, Cornelia Schadler: Polyfantastisch? Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis. Münster, Unrast 2019, 224 Seiten, 16€.

Über das Lob für Theodor W. Adornos „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“

Im Sommer 2019 wird ein Vortrag von Adorno von 1967 erstmals verlegt und findet großen Anklang. Anlass des Vortrags war der Einzug der NPD in mehrere Landesparlamente und die heutigen Rezensent*innen finden an seinen vorgetragenen Aspekten vieles wieder, was in Zeiten des Aufstiegs der AfD los ist. Die Gruppen gegen Kapital und Nation nehmen das öffentliche Lob kritisch unter die Lupe.

Die Narben einer Demokratie

Adorno will in dem Vortrag keine Erklärung des Rechtsradikalismus machen, er will nur „versuchen, (…) in losen Bemerkungen einige Dinge hervorzuheben, die vielleicht Ihnen nicht allen so gegenwärtig sind.“ (S. 9) In diesem Sinne ist das Buch voll mit Hinweisen und Thesen, die aber kaum ausgeführt werden. Damit ist das Buch eine gute Vorlage für diejenigen, die sich aus dem Buch einfach Aspekte herauspicken, kreativ auf die heutige Zeit anwenden und damit ihre Weltsicht bestätigen wollen. Diese von Rezensent*innen rausgesuchten Aspekte sollen im Folgenden diskutiert werden, weil sie ein Licht auf die demokratische Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus werfen und nebenbei auch auf Adornos Vortrag.
Dass Rechtsradikale die „ewig Unbelehrbaren“ und Verrückte seien, ist eine 1967 wie heute bekannte These. Dass das irgendwie in jeder Demokratie vorkomme und dieses Urteil dann eher ein Abfinden ist, nach dem Motto – ist irgendwie so, muss man mit leben und ist daher auch nicht weiter interessant –, auch. Dagegen hält Adorno fest, dass der Anklang von rechtsradikalen Gedankengut tiefere und festere gesellschaftliche Gründe hat.
„Ich glaube man kann darauf nur antworten: Gewiß sei in jeder sogenannten Demokratie auf der Welt etwas Derartiges in variierender Stärke zu beobachten, aber doch nur als Ausdruck dessen, daß dem Inhalt nach, dem gesellschaftlich-ökonomischen Inhalt nach, die Demokratie eben bis heute nirgends wirklich und ganz sich konkretisiert hat, sondern formal geblieben ist. Und die faschistischen Bewegungen könnte man in diesem Sinn als die Wundmale, als die Narben einer Demokratie bezeichnen, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird.“ (S. 18)
In der Postfaschismus-Ära war von der KPD bis in die CDU hinein das Urteil in Mode, dass die Kapitalkonzentration den Faschismus hervorgebracht oder begünstigt habe. Auf der einen Seite hat diese einige Personen ökonomisch sehr mächtig gemacht und ihnen die Gelegenheit gegeben, die Nazis in ihrer Propaganda wirksam zu unterstützen. Auf der anderen Seite habe die Kapitalkonzentration dafür gesorgt, dass nicht nur Arbeiter*innen sich massenhaft auf der Straße wiedergefunden haben, sondern auch kleinere Betriebe massenhaft dicht machen mussten. Dass die Schere von arm und reich immer weiter auseinandergeht, ist eine Systemnotwendigkeit des Kapitalismus. So hatte sich Adorno das richtigerweise gedacht.
Diesen Gedanken finden jetzt diverse Rezensent*innen irgendwie auch wichtig und spannend:
„Wer denkt da im 21. Jahrhundert nicht auch sofort an die großen Digitalkonzerne und ihre Macht, ganze Geschäftsmodelle mit einer kleinen Algorithmus-Änderung vernichten zu können?“ (SZ am 20.07.2019)
Wenn der SZ da erstmal die amerikanischen Internet-Konzerne einfallen, ist klar, dass sie von einer Systemnotwendigkeit nichts wissen will, sondern von Auswüchsen, die die demokratische Politik korrigieren müsste. Denn schließlich könnte man an allerhand denken, wie an die Kapitalkonzentration in diversen Branchen (Automobil, Einzelhandel etc.), die Finanzkrise 2008 oder das anhaltende Bauernsterben. DER SPIEGEL ist dann weit weg von ökonomischen Fragen, wenn er sich Adornos Überlegungen frei interpretierend in ein Problem der demokratischen Öffentlichkeit übersetzt: „Wenn sich Teile der Bevölkerung heute von demokratischer Teilhabe ausgeschlossen sehen, haben sie oftmals recht.“ (06.08.2019)
Drei Fragen bleiben aber.
Erstens: Warum ist der Prozess der Kapitalkonzentration eigentlich ein Hinweis auf eine Nicht-Vollendung der Demokratie? Es ist doch gerade der Rechtsstaat mit seinen gewählten politischen Führer*innen, die diesen Prozess mit Eigentumsgarantie, Vertragsfreiheit, Sozialstaat und Wirtschaftspolitik hervorbringt und fördert.
Zweitens: Sind die Rechten als Deklassierte oder Modernisierungsverlier​er*innen gut eingeordnet? Immerhin stellt Adorno und auch die heutige Berichterstattung fest, dass die Rechten in allen Klassen und Schichten der Bevölkerung zu finden sind.
Drittens: Was ist der Zusammenhang zwischen individuellen ökonomischen Misserfolg oder fehlender Teilhabe (ob real, drohend und bloß eingebildet) und rechtsradikalen Denken? Denn Bürger*innen gewöhnen sich an allerhand und machen vieles mit. Ist die Krise, aus welcher der Faschismus heraushelfen soll, in den Köpfen der Rechtsradikalen tatsächlich so klein angelegt, dass es sich bei ihr um die versammelten individuellen Krisen der Rechtsradikalen handelt?
So macht Adorno jedenfalls weiter:

Der subjektive Faktor

„Diese Konzentrationstendenz bedeutet nach wie vor auf der anderen Seite die Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich waren, die ihre Privilegien, ihren sozialen Status festhalten wollen und womöglich ihn verstärken. Diese Gruppen tendieren nach wie vor zu einem Haß auf den Sozialismus oder das, was sie Sozialismus nennen, das heißt, sie verschieben die Schuld an ihrer eigenen potentiellen Deklassierung nicht etwa auf die Apparatur, die das bewirkt, sondern auf diejenigen, die dem System, in dem sie einmal Status besessen haben, jedenfalls nach traditionellen Vorstellungen, kritisch gegenübergestanden haben.“ (S. 10)
Leute haben Aufstiegshoffnungen in der bürgerlichen Gesellschaft, und sie stellen fest, dass diese Hoffnungen gerade nicht erfüllt werden. Woran liegt das? Ihre Antwort ist nicht diejenige, die Adorno für richtig hält: Das System ist verantwortlich, bzw. die Apparatur. Stattdessen geben sie die Schuld den Kritiker*innen des Systems.
So mag sich vielleicht eine FDP-Anhänger*in ihren ökonomischen Misserfolg erklären, wenn sie meint, dass der Umweltschutz oder der Arbeitsschutz Grund für den ausbleibenden Erfolg sei. Bekommt man aber damit die Feindschaft gegen Marxismus (zu dem für einen heutigen Rechtsradikalen auch die Ökobewegung und der Feminismus gehört), EU (damals EWG), Ausländer*innen und Staatsbürger*innen mit migrantischem Hintergrund zusammen? Diese Aspekte des Rechtsradikalismus kennt Adorno ja auch, genauso wie die Rezensent*innen. So schreibt DER SPIEGEL zu dem Adorno-Zitat: „Und heute, kann man ergänzen, vor allem auf Migranten und eine herbeihalluzinierte linke Meinungsdiktatur.“
Adorno behauptet die Rechten würden eine Schuldverschiebung vom System auf die Kritiker*innen des Systems machen. Da fällt dem Spiegel auf, dass die AfD noch einen anderen wichtigen Feind kennt: die Ausländer*innen (oder das, was sie dafür halten). Aber das ist doch keine „Ergänzung“, wie DER SPIEGEL meint.
Zur Logik der Schuldverschiebung, wie Adorno sie darlegt, passen Migrant*innen nämlich überhaupt nicht. Diese waren nie als Gruppe Kritiker des Systems, noch hatten sie politische Macht.
Liegt es nicht viel näher, das politische Programm und die Feindschaftserklärungen des Rechtsradikalismus ernst zu nehmen? Damals (NPD) wie heute (AfD) steckt für die Rechtsradikalen unübersehbar das Volk, der Staat und mit beiden eben die Nation in der Krise. Die Ursachen dieser Krise werden entsprechend im Internationalismus (oder heute Humanismus) der Linken, in Abhängigkeiten vom Ausland und in den vorhandenen (oder so gesehenen) Ausländer*innen in der Heimat gesehen.
Damit kann man auch erklären, warum der Rechtsradikalismus ein klassenübergreifendes Phänomen ist: Schlicht weil es nicht einfach um individuelle Existenzkrisen geht, sondern um etwas Höheres: um die Nation. Die ist für jede Bürger*in, unabhängig von der Klassenlage, ein hohes Gut und gilt als die Grundlage eines würdigen Lebens schlechthin. Die Rechtsradikalen unterscheiden sich dann von den anderen Bürger*innen, weil sie sich zur Diagnose vorgearbeitet haben, dass die Nation in der Krise stecke.

Ein überkommender Nationalismus

Dass die Sorge um den Zustand der Nation für die Rechten eine große Rolle spielt, ist wiederum allen klar – Adorno wie den heutigen Zeitungsschreiber*innen. Hier lebt dann aber die Idee von „Ewiggestrigen“ in modifizierter Form auf. In der SZ steht: „Auch die Analyse der ideologischen Macht des Nationalismus, die sich heute die AfD und ihre europäischen Verwandten systematisch zunutze machen, ist erschreckend gültig. In der Tatsache seiner Überholtheit in einer internationalisierten Welt sieht Adorno keine Schwäche, sondern unnachahmlich lakonisch die eigentliche Stärke des Nationalismus: Es sei schließlich so, dass ‚Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr recht substanziell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen‘“ (Die SZ zitiert hier Adorno, S. 13).
Der Nationalismus törne also gewisse Leute besonders dort an, wo er kaum mehr eine Rolle spiele in der Gesellschaft. Und damit sei der Nationalismus bloß eine Ausdrucksweise von tiefergehenden sozialpsychologischen Motiven, die mit Nationalismus nicht viel zu tun haben.
Hier liegt einer der zentralen Grundfehler Adornos und der demokratischen Öffentlichkeit heutzutage vor, wenn sie den Rechtsradikalismus erklären wollen. Denn der Nationalismus ist nicht überholt, er ist von links bis rechts das Normale:
Wer hat denn zu Adornos Zeiten nicht ständig vom „Wir“ gesprochen, das jetzt den Wiederaufbau Deutschlands vorantreiben müsse? Welche Regierung zu seinen Zeiten hat die Einbindung Deutschlands in das System des freien Westens nicht mit einem Wiederaufstieg Deutschlands in der Welt verbunden? Oder heute: „Europa braucht uns, wie wir Europa brauchen“, sagt Merkel 2020. Der Maßstab des Internationalismus ist eben Deutschlands Stärke. Und auch Merkel weiß, dass der Internationalismus da seine Grenze hat, wo man zum Schluss kommt, dass er Deutschland nicht mehr nützt. Aufgrund der Trumpschen Politik drück sie das folgendermaßen aus: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. (…) Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen“ (Merkel 2017). Und da wird das ausgerechnet das Programm der AfD, die gleich skeptisch ist, ob Deutschland in der EU gut aufgehoben sei, anstatt sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, für überholt erklärt? Mag sein, dass die AfD-Position vom deutschen Feldherrenhügel provinziell und letztlich als schädlich für Deutschland erscheint. Aber dass das Ausland ein prekärer Partner für die Stärke der eigenen Nation ist, diesen Gedanken schöpft die AfD nicht einfach aus der Vergangenheit, sondern aus der normalen, alltäglichen Politik. Dass das Programm der AfD als unzeitgemäß und für verrückt erklärt wird, sagt einiges über die Rezensent*innen aus: Ihnen ist der regierungsamtliche Nationalismus, der Deutschland in Konkurrenz gegen und Kooperation mit anderen Staaten stark machen will, so selbstverständlich gut, dass sie darin gar kein nationales Interesse mehr entdecken wollen, sondern nur moralisch gerechten Friede-, Freude-, Eierkuchen-Einsatz für die ganze Welt. Nur, wer sich diesem Programm in den Weg stellt (und das sind vor allem die anderen Staatenlenker und rechte Fans einer konsequenteren Selbstbehauptung), der ist dann Nationalist.

Das Ende vom Lied

Wird von den Rezensent*innen zunächst Adornos Gedanke gelobt, dass man die Rechten nicht als Spinner abtun, sondern nach gesellschaftlichen Gründen fragen sollte, die den Rechtsradikalismus begünstigen, bleibt am Ende folgendes Urteil übrig:
Der Kapitalismus begünstigt (immer mal wieder) Abstiegsängste. Und eine gut funktionierende Demokratie fängt Abstiegsängste so ein, dass die Leute sich auch weiterhin mit der Demokratie identifizieren. Rechte gebe es nur, weil die Demokratie unvollendet sei oder gerade nicht gut funktioniere. Der Deutschlandfunk ist sich daher sicher: „Demokratie vollenden, die sozialen Verwerfungen mindern. Nur so, meint Adorno, ist der rechtsextreme Sumpf auszutrocknen. Was zu tun ist, liegt also auf der Hand.“ (DLF-Kultur am 25.01.2020) In dieser Weise nehmen das ja auch die Volksparteien wahr, wenn sie sich selbst vorwerfen, dass Leute abdriften. Sie machen sich zur Aufgabe, diese wieder hinter sich zu versammeln, damit die Gesellschaft nicht gespalten, sondern als nationale Einheit dasteht. Der Nationalismus ist das kollektive „Ja“ zur staatlichen Zwangsjacke einer kapitalistischen Gesellschaft, die von Gegensätzen nur so wimmelt. Er ist das Bewusstsein, dass der einzelne Bürger sich für das Allgemeine einsetzen sollte. Doch das Allgemeine besteht in einer Gesellschaft aus lauter Konkurrenten nunmal „bloß“ in der staatlichen Pflege der Grundlagen dieser Konkurrenz. Und damit ist die Stärke des Staates selber ein Anliegen des modernen nationalistischen Bürgers. Die staatliche Handlungsfähigkeit nach Innen wie Außen ist letztlich das A und O der Patrioten von CSU bis zur Linkspartei. Und diese Handlungsfähigkeit sehen AfD und die Identitären gefährdet, weil die derzeitige Außenpoilitik und Bevölkerungspolitik in ihren Augen die Einheit im Volk gefährde. Dass die AfD und die Identitären eine andere Einheit wollen, ist deutlich. Dass die nationale Identität und die Sorge um das „Wir“ und Deutschlands Stärke in der Welt in der vollendeten Demokratie überhaupt das fortlaufende Sprungbrett der Rechtsradikalen ist, das kommt den Rezensenten von Adorno gar nicht in den Sinn. Und Adornos Vortrag liefert dafür eher Futter als Gegenargumente, wenn er den Nationalismus nur im Extrem erkennen kann und nicht im Normalvollzug der Demokratie; wenn er die Demokratie nicht als Form von Herrschaft ernst nimmt und ein mehr an Demokratie vermisst; und wenn er den Bürger*innen eine politische Krisendiagnose nicht zutraut und ihnen nur private ökonomische Kalkulationen attestiert.

Eine ausführliche antinationale Kritik des Programms der AfD und eine Kritik der demokratischen Kritik an der AfD findet sich in der Broschüre: „Von Schland nach Gauland – Das Krisenprogramm der AfD und seine demokratische Grundlage“ , online auf der Webseite der Gruppen gegen Kapital und Nation.